9.2. Der Aufgabe-Lösungs-Ansatz bei Mischerfindungen
9.2.5 Merkmale, die zum technischen Charakter der Erfindung beitragen
Ausführungen zum Thema Technizität und technischer Charakter finden sich auch im Kapitel I.A.3. "Technischer Charakter als Voraussetzung für eine Erfindung".
Nach der ständigen Rechtsprechung können Merkmale einer Erfindung, die weder eine technische Wirkung haben noch mit den übrigen Merkmalen der Erfindung so in Wechselwirkung stehen, dass sich daraus ein funktionaler technischer Beitrag ergibt, nicht als Beitrag zur erfinderischen Tätigkeit im Sinne des Art. 56 EPÜ betrachtet werden. Dies gilt nicht nur dann, wenn die Merkmale nicht selbst zum technischen Charakter der Erfindung beitragen (T 641/00, ABl. 2003, 352; T 258/03, ABl. 2004, 575; T 531/03; s. auch T 456/90, T 931/95, T 27/97, T 258/97, T 1121/02 und T 1784/06), sondern auch, wenn die Merkmale grundsätzlich zwar als technisch bezeichnet werden könnten, im Kontext der beanspruchten Erfindung aber keine technische Funktion haben (T 619/02, ABl. 2007, 63; T 72/95, T 157/97, T 158/97, T 176/97). Es kommt auch nicht darauf an, ob die Merkmale selbst naheliegend sind oder nicht (s. T 72/95, T 157/97, T 158/97 und T 176/97). In T 1784/06 stellte die Kammer fest, dass es paradox sei, eine erfinderische Tätigkeit auf der Grundlage einer nichttechnischen Innovation (wie eines Organisations-, Verwaltungs-, Geschäfts- oder mathematischen Algorithmus) anzuerkennen, die keinen anderen technischen Bezug hat als den (naheliegenden) Wunsch, sie auf einem Universalrechner zu implementieren (s. auch T 279/21).
Entscheidend für das Vorhandensein einer (potenziell patentierbaren) Erfindung ist der grundlegende, technische Charakter des beanspruchten Gegenstands (T 154/04, T 931/95, ABl. 2001, 441; T 935/97; T 1173/97, ABl. 1999, 609; T 641/00, ABl. 2003, 352; T 914/02; T 154/04, ABl. 2008, 46; T 1227/05, ABl. 2007, 574). Der beanspruchte Gegenstand muss technischen Charakter aufweisen oder – etwas präziser umschrieben – eine "Lehre zum technischen Handeln" zum Gegenstand haben, d. h. eine an die Fachperson gerichtete Anweisung, eine bestimmte technische Aufgabe mit bestimmten technischen Mitteln zu lösen (T 154/04, ABl. 2008, 46). Der erforderliche "technische Charakter" ist eine implizite Bedingung für eine Erfindung im Sinne von Art. 52 (1) EPÜ 1973 (Erfordernis der "Technizität"); Art. 52 (2) EPÜ 1973 steht der Patentfähigkeit von Gegenständen oder Tätigkeiten mit technischem Charakter auch dann nicht entgegen, wenn sie sich auf in dieser Vorschrift angegebene Sachverhalte beziehen, da diese nur "als solche" ausgeschlossen sind (Art. 52 (3) EPÜ 1973 (T 154/04, ABl. 2008, 46). Der technische Charakter ergibt sich entweder aus den physischen Merkmalen eines Gegenstands oder (bei einem Verfahren) aus der Verwendung technischer Mittel (T 641/00, ABl. 2003, 352, T 1543/06).
Die Rechtsprechung erkennt im technischen Charakter ein eigenständiges, von den übrigen Patentierbarkeitsvoraussetzungen des Art. 52 (1) EPÜ 1973 – insbesondere Neuheit und erfinderischer Tätigkeit – unabhängiges Erfordernis, dessen Vorliegen somit ohne Berücksichtigung des Stands der Technik beurteilt werden kann (T 154/04). Die rechtliche Definition von Art. 56 EPÜ ist im Zusammenhang mit den anderen Patentierbarkeitserfordernissen der Art. 52 bis 57 EPÜ zu sehen, die als allgemeine Grundsätze enthalten, dass Erfindungen auf allen technischen Gebieten dem Patentschutz zugänglich sind und dass eine Erfindung im Sinne des EPÜ technischen Charakter aufweisen muss (T 931/95, ABl. 2001, 441; T 935/97, T 1173/97, ABl. 1999, 609; T 641/00, ABl. 2003, 352; T 914/02, T 154/04, ABl. 2008, 46; T 1227/05, ABl. 2007, 574). Ein Indiz für technischen Charakter ist nach T 208/84 (ABl. 1987, 14), dass das Verfahren eine technische Gesamtwirkung wie die Steuerung eines physischen Prozesses hat (s. auch T 313/10).
In T 388/04 (ABl. 2007, 16) war die Kammer der Auffassung, dass Gegenstände oder Tätigkeiten, die nach Art. 52 (2) und (3) EPÜ 1973 vom Patentschutz ausgeschlossen sind, auch dann ausgeschlossen bleiben, wenn sie die Möglichkeit implizieren, dass nicht angeführte technische Mittel verwendet werden.
In T 1370/11 stellte die Kammer Folgendes fest: Die verbesserte Geschwindigkeit eines Computerprogramms ist für sich genommen kein technischer Beitrag zum Stand der Technik (s. auch T 42/10). S. hierzu ausführlicher Kapitel I.D.9.2.10.
In T 2488/11 befand die Kammer, dass die Protokollierung oder Dokumentierung der Ausführungsdetails von in einem Labor durchgeführten Tests nichttechnischer Natur ist, die Technizität dieser Tests selbst spielt dabei keine Rolle. Die Kammer befand außerdem, dass die bloße Technisierung einer nichttechnischen Aufgabe mittels allgemein bekannter technischer Mittel nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen kann.
In T 302/19 sah die Prüfungsabteilung Anspruch 1 als einfache Automatisierung einer bekannten manuellen Tätigkeit eines Laboranten an. Aus Sicht der Kammer kann ein solches Argument nur dann Erfolg haben, wenn klar ist, worin die manuelle Tätigkeit besteht, und wenn überzeugend dargelegt wurde, dass es sich dabei um eine zum maßgeblichen Zeitpunkt tatsächlich existierende Tätigkeit handelt und es naheliegend gewesen wäre, eine Automatisierung in Betracht zu ziehen.
In T 1411/21 bestätigte die Kammer, dass die Verwaltung von Lagerbeständen nichttechnischer Natur ist, und vertrat die Auffassung, dass dies auch für das Fuhrparkmanagement von Mietwagen gilt, das in diesem Fall ein Verfahren zur Bestimmung eines technischen Halts eines Fahrzeugs in einem Wartungszentrum einschließt.
In T 1375/11 bestand die Aufgabe in der "Verbesserung der ergonomischen Bedienbarkeit". Die Kammer hatte keinen Zweifel, dass das Problem der Verbesserung der Ergonomie eine technische Aufgabe darstellt und verwies auf T 1296/05. Sie verwies auch auf den in der Entscheidung T 862/10 aufgestellten Grundsatz, dass sowohl das Problem als auch die Lösung technisch seien, da sie nicht von psychologischen oder subjektiven Faktoren abhängen. Vielmehr hängen sie von technischen Parametern (basierend auf u. a. menschlicher Physiologie) ab, die genau definiert werden können.
In T 2491/12 befand die Kammer, dass die beanspruchte Erfindung nicht auf eine Echtzeitaufgabe im Sinne der Verbesserung eines technischen Prozesses gerichtet war, sondern auf eine Automatisierung im Sinne einer raschen Bereitstellung (nichttechnischer) Finanzinformationen. Diese Automatisierung wurde durch Abbildung des Finanzkonzepts von Derivatgeschäften auf einem Client-Server-Computersystem erzielt, was als nicht ausreichend für eine technische Wirkung befunden wurde.
In T 1148/18 vertrat die Kammer die Auffassung, dass die Vorhersage von Reisezeiten auf der Grundlage von Verlaufsdaten konzeptionell der Vorhersage von Ankunftsdaten für die Zustellung von Postsendungen auf der Grundlage früherer Zustellzeiten (s. T 983/11) oder der Vorhersage künftiger Käufe auf der Grundlage früherer Käufe (siehe T 977/17) ähnelt. Alle diese Tätigkeiten seien an sich schon von der Patentierbarkeit nach Art. 52 (2) a) EPÜ und/oder Art. 52 (2) c) und (3) EPÜ ausgeschlossen (siehe auch T 154/04). In T 2367/22 verwies die Kammer auf T 1148/18 und befand, dass ein System zur genaueren Vorhersage einer Reisezeit nichttechnisch ist.