6.6. Nacharbeitbarkeit ohne unzumutbaren Aufwand
6.6.1 Gelegentliches Misslingen
Für die Offenbarung einer Erfindung ist es ausreichend, wenn die zur Ausführung der Erfindung bestimmten Mittel durch technische Angaben, die sie anwendbar machen, eindeutig offenbart sind und das angestrebte Ergebnis zumindest in einigen – realistischen – Fällen erreicht wird (T 487/91). Das gelegentliche Misslingen eines beanspruchten Verfahrens beeinträchtigt nicht dessen Ausführbarkeit, wenn es nur einiger Versuche bedarf, um den Fehlschlag in einen Erfolg zu verwandeln, vorausgesetzt, dass sich diese Versuche in vertretbaren Grenzen halten und keine erfinderische Tätigkeit erfordern (T 931/91). Die Fachperson ist an gelegentliche Fehlschläge beim Testen einer technischen Lehre gewöhnt (T 14/83, zitiert in T 1133/08).
In der Ex-parte-Entscheidung T 1111/14 (menschliche Hepatozyten) verwarf die Kammer die Schlussfolgerung der ersten Instanz zu Art. 83 EPÜ (Verstoß) unter Verweis auf die vorgenannte Passage von T 931/91 und ergänzte, dass auf dem fraglichen technischen Gebiet ein gelegentlicher Fehlschlag die Regel und nicht die Ausnahme ist.
In einem Anspruch wird versucht, eine Vorrichtung unter Idealbedingungen zu definieren, also den Bedingungen einer theoretisch optimalen oder nominalen Funktionsweise. Die Fachperson, an die sich der Anspruch richtet, begreift jedoch mühelos, dass die in der Praxis vorliegenden Bedingungen der Funktionsweise nicht den im Anspruch definierten Idealbedingungen entsprechen. In T 383/14 (Sortiertisch für die Weinlese) erkannte die Fachperson beim Lesen des Anspruchs sofort die praktische Funktionsweise nach der Weinlese und verstand daher die strittigen Begriffe im Sinne der praktischen Funktionsweise aller mechanischen Vorrichtungen, die niemals eine Zuverlässigkeits- oder Erfolgsquote von 100 % haben können, wobei diese im konkreten Fall der Sortierung und Kalibrierung noch geringer ist.
In T 38/11 fasste die Kammer die Rechtsprechung zusammen, um unzureichende Offenbarung geltend zu machen (Ermittlung von Informationslücken), und wies im vorliegenden Fall darauf hin, dass der Beschwerdeführer (Patentinhaber) selbst argumentiert habe, dass ein Synergieeffekt einer Zusammensetzung von einem Parameterbereich abhänge und eher eine Ausnahmesituation sei. Solche Parameter wurden nicht offenbart, was bedeutet, dass das Patent nicht durch gelegentliches Misslingen beeinträchtigt wurde, sondern dass ein verallgemeinerungsfähiges Konzept fehlte. Die Situation konnte zutreffend als Aufforderung gedeutet werden, ein auf Versuch und Irrtum basierendes Forschungsprogramms mit geringen Erfolgsaussichten durchzuführen (s. T 435/91 (ABl. 1995, 188) und T 809/07). Dementsprechend konnte keine ausreichende Offenbarung anerkannt werden.
In T 2728/16 kam die Kammer zu dem Schluss, dass das Patent keine verallgemeinerungsfähige technische Lehre offenbart und dass somit der Fachperson die meisten der von Anspruch 1 umfassten Systeme nicht zur Verfügung stehen. Eine Lehre, wie die nicht funktionsfähigen Ausführungsformen funktionsfähig gemacht werden könnten, stand der Fachperson auch nach Lektüre des Patents nicht zur Verfügung. Die nicht funktionsfähigen Systeme des Anspruchs 1 waren also nicht das Ergebnis gelegentlicher Fehlschläge, die tolerierbar sind und ohne unzumutbaren Aufwand in einen Erfolg verwandelt werden können, sondern systematischer Natur. Die vom Beschwerdegegner (Patentinhaber) angeführten Entscheidungen T 487/91, T 931/91 und T 107/91 waren demnach nicht anwendbar. Die Kammer stimmte der Auffassung des Beschwerdegegners nicht zu, wonach die angegebene Fehlerquote von 2 % der Versuchsläufe bedeute, dass 98 % der von Anspruch 1 umfassten Systeme aussagekräftige Ergebnisse liefern würden. Die im Patent beschriebenen Versuchsreihen umfassten nicht im Wesentlichen alle unter Anspruch 1 fallenden Ausführungsformen.
In T 603/22 (Verfahren zum Schleifen von PAEK-Flocken, um Pulver mit einem mittleren Durchmesser von weniger als 100 μm zu gewinnen) urteilte die Kammer, dass es in diesem Fall unmöglich ist, von "gelegentlichem Misslingen" zu sprechen, da das Patent nicht den Schluss zuließ, dass das beanspruchte Ergebnis zumindest in einigen Fällen erreicht wird (vgl. T 487/91). Vielmehr liege eine Situation des systematischen Scheiterns vor. Der Beschwerdeführer (Patentinhaber) berief sich bei seiner Behauptung, dass ein notwendiges Herumexperimentieren akzeptabel sei, auch auf die Rechtsprechung. Die Kammer stellte klar, dass die Rechtsprechung für das Herumexperimentieren Grenzen setzt (siehe den Abschnitt unten in diesem Kapitel II.C.6.7.).