5. Erste Anmeldung für die Erfindung
5.2. Identität des Anmelders
In T 5/05 betonte die Kammer, dass die Priorität nur durch frühere Anmeldungen begründet werden kann, die vom Anmelder der europäischen Anmeldung oder seinem Rechtsvorgänger eingereicht wurden. Zudem erfüllen nur solche Anmeldungen das aus Art. 87 (4) EPÜ 1973 herleitbare zusätzliche Erfordernis, dass es sich bei der prioritätsbegründenden Anmeldung um die erste Anmeldung des Anmelders oder seines Rechtsvorgängers in Bezug auf die Erfindung handeln muss. Auf den Erfinder kommt es dabei nicht an. Anmeldungen verschiedener Anmelder stehen einander als Stand der Technik im Sinne von Art. 54 (2) EPÜ 1973 oder gegebenenfalls Art. 54 (3) EPÜ 1973 gegenüber.
In T 788/05 war der Patentinhaber Mitanmelder einer früheren europäischen Voranmeldung D1 mit älterem Prioritätsdatum als dem des Streitpatents. Die Kammer stellte fest, dass der Begriff "jedermann" in Art. 87 (1) EPÜ 1973 (oder "der Anmelder" in Art. 88 (1) EPÜ 1973) bedeute, dass die "erste Anmeldung" (oder die "frühere Anmeldung" in Art. 88 (1) EPÜ 1973) und die spätere Anmeldung, für die ein Prioritätsrecht beansprucht werde, denselben Anmelder haben müssten. Im Falle von D1 bedeute dies, dass das Prioritätsrecht den beiden Anmeldern gleichzeitig zustehe, sofern nicht einer von ihnen – und zwar vor der Einreichung der späteren Anmeldung – beschließe, seinen Prioritätsanspruch auf den anderen zu übertragen, der dann sein Rechtsnachfolger würde. Für eine solche Übertragung war kein Nachweis erbracht worden. Da die vorliegende Anmeldung nur von einem Anmelder eingereicht worden sei, könne D1 aber nicht die "erste Anmeldung" im Sinne von Art. 87 (1) EPÜ 1973 sein. Siehe auch T 2360/19 in diesem Kapitel II.D.2.6.
In T 1933/12 wurde die dem Patent zugrunde liegende Anmeldung von den Patentinhabern A1 und A2 eingereicht und beanspruchte die Priorität der ebenfalls von A1 und A2 angemeldeten D0. Schon vor der D0 jedoch hatte A2 die Anmeldung D1 eingereicht, deren Priorität nicht beansprucht wurde, die aber unstreitig ein Getriebe gemäß dem strittigen Anspruch 1 offenbarte. Die Patentinhaber argumentierten, dass D1 nicht als erste Anmeldung i.S. des Art. 87 EPÜ gelten kann. Da A2 alleiniger Anmelder für D1 sei, liege keine Anmelderidentität mit dem Streitpatent vor. Die Kammer war anderer Meinung. Art. 87 (1) EPÜ schließe nicht aus, dass der (Einzel-)Anmelder der ersten Anmeldung sein Prioritätsrecht mit einem Dritten teile, indem er gemeinsam mit diesem eine Nachanmeldung einreicht. Dieser Artikel schreibe vielmehr vor, dass der Anmelder der ersten Anmeldung oder sein Rechtsnachfolger sich auch unter den Anmeldern der prioritätsbeanspruchenden Nachanmeldung befinde. In einem solchen Fall, in dem bei der Nachanmeldung lediglich ein weiterer Anmelder hinzukomme, bedürfe es dann auch keines Nachweises der Übertragung des Prioritätsrechts auch auf diesen weiteren Anmelder. Da im vorliegenden Fall der einzige Anmelder A2 für D1 auch einer der Anmelder der dem Patent zugrunde liegenden Anmeldung sei, sei D1 als erste Anmeldung anzusehen (Art. 87 (1) EPÜ). Vor allem spiele die Identität der Erfinder in Art. 87 EPÜ, wonach die Inanspruchnahme der Priorität anmelderbezogen sei, keine Rolle (T 5/05). Siehe auch in diesem Kapitel II.D.2.5.
In T 788/05 und T 1933/12, die vor G 1/22 und G 2/22 (s. in diesem Kapitel II.D.2.) ergangen sind, beanspruchten die Anmelder der strittigen Anmeldung nicht die Priorität der früheren Anmeldung, die die Gegner als erste "Anmeldung" bezeichneten (vgl. Fälle in diesem Kapitel II.D.2.).