8. Ablauf der mündlichen Verhandlung
8.9. Beendigung und Wiedereröffnung der sachlichen Debatte
Nach der ständigen Praxis der Kammern ist die Beendigung der sachlichen Debatte der letzte Zeitpunkt in der mündlichen Verhandlung, zu dem die Beteiligten noch vortragen können (G 12/91, ABl. 1994, 285; R 10/08; R 14/10; T 595/90, ABl. 1994, 695; T 196/22). Nach Beendigung der sachlichen Debatte kann weiteres Vorbringen der Parteien nicht mehr berücksichtigt werden, es sei denn, das Entscheidungsorgan gestattet den Parteien unter Fristsetzung, Stellung zu nehmen, oder beschließt, die mündliche Verhandlung zur weiteren sachlichen Erörterung wieder zu eröffnen. Die Wiedereröffnung der Debatte liegt im Ermessen des jeweiligen Entscheidungsorgans (T 595/90, T 683/14, T 2401/19).
In T 577/11 befand die Kammer Folgendes: Wenn die sachliche Debatte zu einem bestimmten Thema ohne Verkündung einer diesbezüglichen Entscheidung beendet wurde, liegt es im Ermessen der Kammer, ob und inwieweit sie die Debatte wieder eröffnet. Wenn die Kammer eine Entscheidung mündlich verkündet, wird diese mit ihrer Verkündung wirksam und bindend (s. G 12/91). Eine Wiedereröffnung der sachlichen Debatte ist in diesem Fall ausgeschlossen. Neben der Verkündung einer Entscheidung oder der Wiedereröffnung der sachlichen Debatte kann die Kammer Schlussfolgerungen ihrer Beratungen bekannt machen oder die Beteiligten auffordern, zum nächsten Thema zu wechseln. Eine Wiedereröffnung der sachlichen Debatte stellt dabei eine Ausnahme dar (s. auch R 10/08), und ein Beteiligter hat keinen Anspruch darauf, dass die sachliche Debatte wieder eröffnet wird.
In T 1525/19 stellte die Kammer fest, dass eine wichtige Frage bei der Wiedereröffnung der Debatte ist, ob die Parteien ausreichend Gelegenheit hatten, sich zu den Gründen und Beweismitteln zu äußern, die der Entscheidung zugrunde lagen (Art. 113 (1) EPÜ).
In T 2401/19 wurde die Debatte kurz vor der Unterbrechung der mündlichen Verhandlung beendet. Nach der Wiederaufnahme der mündlichen Verhandlung erhob der Beschwerdeführer einen Einwand nach R. 106 EPÜ mit der Begründung, dass sein Recht auf rechtliches Gehör in der mündlichen Verhandlung verletzt worden sei. In Anbetracht des Zwecks des Einwands nach R. 106 EPÜ hielt die Kammer es für angebracht, die Debatte wieder zu eröffnen, allerdings nur im Hinblick auf diesen Einwand.
In T 196/22 hielt die Kammer es für unwahrscheinlich, dass sie die Debatte wiedereröffnet, wenn die Parteien ordnungsgemäß angehört wurden und sie sich in der Lage sieht, eine Meinung zu bilden. Es liege in ihrem Ermessen, den Antrag eines Beteiligten auf mehr Zeit zur Formulierung von Fragen an die Große Beschwerdekammer zurückzuweisen, der lediglich dazu diente, eine bereits abgeschlossene Debatte wieder aufzunehmen, auf die die Kammer sich bei ihren Schlussfolgerungen gestützt hatte (zu Vorlagen nach Art. 112 (1) a) EPÜ s. auch Kapitel V.B.2.3.1 "Allgemeines").
In T 888/17 erklärte die Kammer, dass es keine Vorschrift im EPÜ gibt, die eine Verkündung der Entscheidung am Ende der mündlichen Verhandlung verlangt (s. auch T 1224/21); vielmehr ist es dem Ermessen der Kammer anheimgestellt, ob sie das Verfahren schriftlich fortsetzt, wenn sie der Ansicht ist, dass die Sache noch nicht entscheidungsreif ist.
Wieder eröffnet wurde die Debatte z. B. in T 932/04, T 577/11, T 117/15 und T 2401/19.
Zur Wiedereröffnung der sachlichen Debatte vor den erstinstanzlichen Abteilungen des EPA s. T 683/14.