2.3. Vorlage durch eine Beschwerdekammer
2.3.1 Allgemeines
Nach Art. 112 (1) a) EPÜ befasst eine Beschwerdekammer die Große Beschwerdekammer, wenn sie eine Entscheidung für erforderlich hält, sei es zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung oder weil sich eine "Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung" stellt. Mit dem EPÜ 2000 wurde der englische Wortlaut von "important" auf "of fundamental importance" geändert, um ihn mit der deutschen und der französischen Fassung in Einklang zu bringen (s. G 1/12, ABl. 2014, A114).
Der Großen Beschwerdekammer können nur Fragen zu einem bestimmten Thema vorgelegt werden, aber nicht der ganze Fall (s. z. B. T 184/91 vom 25. Oktober 1991 date: 1991-10-25, T 198/12). Die Große Beschwerdekammer muss die Zulässigkeitserfordernisse für jede Vorlagefrage einzeln prüfen (G 1/19, ABl. 2021, A77). In den verbundenen Verfahren G 1/22 und G 2/22 (ABl. 2024, A50) war die Große Beschwerdekammer der Auffassung, dass Frage II zulässig ist und die Frage I allein deshalb zugelassen werden sollte, weil die Fragen insoweit miteinander verknüpft sind, als eine Bejahung von Frage I Voraussetzung für die Behandlung von Frage II ist.
Die Große Beschwerdekammer ist keine dritte Instanz innerhalb des EPA, sondern Teil der von den Beschwerdekammern gebildeten zweiten Instanz (T 79/89, ABl. 1992, 283). Die Antworten der Großen Beschwerdekammer zu den ihr vorgelegten Rechtsfragen sind jedoch für die Entscheidung der vorlegenden Kammer über die anhängige Beschwerde bindend (Art. 112 (3) EPÜ; s. auch J 8/07 vom 1. Juli 2010 date: 2010-07-01). In T 438/22 machte der Beschwerdeführer geltend, dass eine Entscheidung der Großen Beschwerdekammer erforderlich sei, da die Richtlinien eine Entscheidung der Großen Beschwerdekammer berücksichtigen müssten. Die Kammer wies darauf hin, dass die Große Beschwerdekammer in dieser Hinsicht keine formalen Befugnisse hat. Art. 112 (3) EPÜ stellt klar, dass die formale Bindungswirkung der Entscheidung der Großen Beschwerdekammer auf den Fall vor der vorlegenden Kammer beschränkt ist. Das EPÜ sieht eindeutig vor, dass es zu den Aufgaben und Befugnissen des Präsidenten des EPA gehört, die Richtlinien zu erlassen, was nach Auffassung der Kammer auch die Befugnis einschließen müsse, darüber zu entscheiden, wie die Richtlinien auf dem neuesten Stand der Rechtsprechung gehalten werden. Eine solche Vorlage könnte durchaus als Versuch aufgefasst werden, in die Befugnisse des Präsidenten nach Art. 10 (2) a) EPÜ einzugreifen.
Darüber hinaus war die Kammer in T 116/18 date: 2023-07-28 der Auffassung, dass die vorlegende Kammer an die Feststellung der Vorlageentscheidung gebunden ist, wenn der Fall von der Großen Beschwerdekammer zurückkommt. Infolge dieser Bindungswirkung war der Rahmen des Verfahrens in der Sache T 116/18 date: 2023-07-28 nach Erlass der Entscheidung G 2/21 (ABl. 2023, A85) auf die Anwendung des von der Großen Beschwerdekammer dargelegten Rechtsgrundsatzes auf die in der Vorlageentscheidung offen gelassenen Fragen beschränkt. Siehe auch Kapitel V.B.2.3.3 und Kapitel V.A.10.2.
Die Große Beschwerdekammer ist an die Formulierung der Frage durch die vorlegende Kammer nicht gebunden und kann die Vorlagefrage umformulieren (s. z. B. G 2/08 date: 2010-02-19, ABl. 2010, 456; G 2/10, ABl. 2012, 376; G 1/13, ABl. 2015, A42; G 3/19, ABl. 2020, A119; und G 1/21, ABl. 2022, A49). Die von einer vorlegenden Kammer gewählte spezifische Formulierung bildet allerdings den Ausgangspunkt für die Definition dessen, was eine vorlegende Kammer als eine Rechtsfrage erachtet, die eine Entscheidung der Großen Beschwerdekammer nach Art. 112 (1) a) EPÜ erfordert (G 2/21). Die Große Beschwerdekammer kann vom Wortlaut abweichen, wenn dies erforderlich ist, um den eigentlichen Gegenstand und Schwerpunkt der Vorlageentscheidung besser wiederzugeben. Sie kann auch von einer Umformulierung oder Neuordnung der Vorlagefragen absehen, wenn sie keine Notwendigkeit oder Rechtfertigung dafür sieht (G 2/21). Sie fasst die ihr vorgelegten Fragen nicht eng auf, sondern so, dass die dahinterstehenden Rechtsfragen geklärt werden (G 3/14 unter Verweis auf G 2/88 und G 6/88, ABl. 1990, 93 und 114).
Im Überprüfungsverfahren nach Art. 112a EPÜ ist die Große Beschwerdekammer keine "Beschwerdekammer" im Sinne des Art. 112 (1) a) EPÜ, die in Anwendung dieser Vorschrift ein Vorlageverfahren einleiten könnte (R 7/08, R 1/11, R 7/12). Ebenso ist die Befassung der Großen Beschwerdekammer durch die BKD ausgeschlossen (D 5/82, D 7/82, D 9/91, D 30/05).
Ist eine Kammer nicht befugt, über eine Frage zu entscheiden, so ist sie auch nicht befugt, die Große Beschwerdekammer mit dieser Frage zu befassen (T 1142/12).
Eine Kammer kann der Großen Beschwerdekammer eine Frage von Amts wegen oder auf Antrag eines Beteiligten vorlegen. Weist die Beschwerdekammer den Antrag auf Vorlage zurück, so hat sie dies in ihrer Endentscheidung zu begründen (Art. 112 (1) a) EPÜ). Dies wurde für notwendig erachtet, um den Beteiligten gewisse Garantien zu bieten und zugleich ein gewisses Maß an Vereinheitlichung der Rechtsprechung zu ermöglichen (Travaux préparatoires, BR/177/72 S. 31). Es wurde jedoch davon abgesehen, den Beteiligten ein Vorlagerecht einzuräumen (BR/168/72 S. 51).
Wenn ein an einem Verfahren vor den Beschwerdekammern Beteiligter der Überzeugung ist, dass bestimmte Fragen die Aufmerksamkeit der Großen Beschwerdekammer verdienen, sollte dieses Argument vor oder während der Erörterung dieser Frage vorgebracht werden, aber keinesfalls danach (T 196/22). So befand die Kammer in T 196/22, dass es in ihrem Ermessen lag, den Antrag eines Beteiligten auf Gewährung einer Frist zur Formulierung von Fragen an die Große Beschwerdekammer abzulehnen, dessen einziger Zweck in der Wiedereröffnung einer bereits beendeten sachlichen Debatte, auf die sich die Kammer bei ihren Schlussfolgerungen gestützt hatte, bestehen konnte (s. auch Kapitel III.C.8.9. "Beendigung und Wiedereröffnung der sachlichen Debatte").
Die am Beschwerdeverfahren Beteiligten sind am Verfahren vor der Großen Beschwerdekammer beteiligt (Art. 112 (2) EPÜ). Die Große Beschwerdekammer kann den Präsidenten des EPA auffordern, sich zu Fragen von allgemeinem Interesse zu äußern; die Verfahrensbeteiligten sind berechtigt, zu diesen Äußerungen Stellung zu nehmen (Art. 9 VOGBK). Dritte können schriftliche Stellungnahmen (Amicus-curiae-Schriftsätze) bei der Großen Beschwerdekammer einreichen (Art. 10 VOGBK).
- R 0016/22
Der Überprüfungsantrag in R 16/22 war gegen die Entscheidung T 2175/15 vom 1. April 2022 gerichtet, mit der die Beschwerdekammer (in der Besetzung nach Art. 24 (4) EPÜ) den Antrag auf Vorlage von Fragen an die Große Beschwerdekammer abgelehnt, und den Ablehnungsantrag betreffend die Mitglieder der Kammer in ihrer ursprünglichen Besetzung vom 24. Dezember 2021 als unbegründet zurückgewiesen hatte.
Zwei Wochen vor der mündlichen Verhandlung erklärte die Antragstellerin in einem Schreiben, dass sie nach nochmaliger Überprüfung der Rechtslage der Auffassung sei, dass die Große Beschwerdekammer im Verfahren nach Art. 112a EPÜ die Möglichkeit habe, "zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung den vorliegenden Fall an die Große Beschwerdekammer gemäß Art. 112 EPÜ vorzulegen". Zu Beginn der mündlichen Verhandlung stellte die Antragstellerin auch den formellen Antrag, der Großen Beschwerdekammer in der Besetzung gemäß Art. 112 EPÜ die Rechtsfrage vorzulegen, ob der Anwendungsbereich von Art. 112a EPÜ auf solche rechtskräftigen Entscheidungen einer Beschwerdekammer beschränkt ist, die ein Beschwerdeverfahren abschließen, oder ob dieser Anwendungsbereich sämtliche rechtskräftigen Entscheidungen einer Beschwerdekammer umfasst..
Im Zusammenhang mit diesem Antrag merkte die Große Beschwerdekammer an, dass gegen die Möglichkeit einer solchen Vorlage allerdings bereits der Wortlaut des EPÜ, der nicht nur in Art. 112 EPÜ klar zwischen "Beschwerdekammer" und "Große Beschwerdekammer" unterscheidet, spricht. Sie fügte hinzu, dass die Große Beschwerdekammer entsprechend in Verfahren gemäß Art. 112a EPÜ auch schon entschieden hat, dass sie der Großen Beschwerdekammer keine Rechtsfragen in einem Verfahren nach Art. 112 EPÜ vorlegen kann (R 7/08, bestätigt z. B. in R 8/12). Was das diesbezügliche Vorbringen der Antragstellerin angeht, konnte die Große Beschwerdekammer keine besonderen Gründe im Sinne von Art. 12 VOGBK erkennen, welche eine Berücksichtigung des verspätet vorgebrachten Antrags auf Vorlage an die Große Beschwerdekammer unter Art. 112 EPÜ rechtfertigen würden. Der Antrag wurde daher als verspätet zurückgewiesen.
In Bezug auf die Zulässigkeit von Überprüfungsanträgen gegen Zwischenentscheidungen befand die Große Beschwerdekammer, dass im Hinblick auf R 5/23 und R 2/15 eine uneinheitliche Rechtsprechung vorliegt. Allerdings habe die Große Beschwerdekammer in einem Verfahren nach Art. 112a EPÜ keine Möglichkeit, eine entsprechende Rechtsfrage zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung nach Art. 112 EPÜ der Großen Beschwerdekammer vorzulegen.
Zum Begriff der "Entscheidung" in Art. 112a EPÜ erklärte die Große Beschwerdekammer, dass sich unterschiedliche Verfahrenshandlungen des EPA durchaus bezüglich ihrer Anfechtbarkeit unterscheiden können, auch wenn sie in gleicher Weise als "Entscheidungen" bezeichnet werden. Sie teilte die in den Entscheidungen R 2/15 und R 5/23 vertretene Auffassung, dass die Bestimmungen von Art. 106 (2) EPÜ im Rahmen des Überprüfungsverfahrens nicht anwendbar sind. Die grundsätzlichen Überlegungen hinter Art. 106 EPÜ, die einer selbständigen Beschwerde gegen Zwischenentscheidungen entgegenstehen (z. B. Vermeidung von Verfahrensverzögerungen), seien dagegen durchaus auf das Überprüfungsverfahren unter Art. 112a EPÜ anwendbar. Diese Überlegungen sprechen gegen eine Möglichkeit der Überprüfung von Zwischenentscheidungen unter Art. 112a EPÜ..
Der Großen Beschwerdekammer zufolge sind auch der Sinn und Zweck des Überprüfungsverfahrens, insbesondere die Ausgestaltung als außerordentlicher Rechtsbehelf, Aspekte, die nicht für eine Gleichsetzung von Überprüfungsanträgen mit Beschwerden im Hinblick auf die Anfechtungsmöglichkeiten oder gar für eine großzügigere Praxis sprechen, sondern eher für eine strengere Beurteilung der Zulässigkeit bei Überprüfungsanträgen. Darüber hinaus impliziert der Wortlaut von Art. 112a (5) EPÜ, der auf die Wiederaufnahme des Verfahrens "vor den Beschwerdekammern" Bezug nimmt, dass vor den Beschwerdekammern eben kein Verfahren mehr anhängig ist. Diese Regelung stützt jedenfalls nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer die Auslegung, nach der Zwischenentscheidungen nicht selbständig bzw. gesondert unter Art. 112a EPÜ überprüft werden können.
Der Antrag auf Überprüfung wurde folglich als unzulässig verworfen.