3.1. Relevanz der Beweismittel
3.1.2 Auswirkung des Beweisangebots auf den Ausgang einer Sache – Verweigerung einer Zeugenvernehmung
Siehe vorstehende Einführung mit den Verweisen auf T 329/02 und T 860/01 und T 474/04 (ABl. 2006, 129).
Die nachstehend angeführten Fälle betreffen in erster Linie Zeugenaussagen. Andere Beweisangebote, wie Z.B die Augenscheinseinnahme, werden jedoch ebenfalls behandelt.
Laut T 716/06 sollte die zuständige Abteilung des EPA dem Antrag eines Beteiligten auf Zeugenvernehmung nur stattgeben, wenn sie dessen Aussage für nötig hält, d. h. wenn diese erforderlich ist, um entscheidungserhebliche Tatsachen zu klären. In der Regel muss die zuständige Abteilung keinen Zeugen zu einer behaupteten Vorbenutzung anhören, wenn sie die vom Einsprechenden vorgebrachten Tatsachen und Argumente zur Stützung der behaupteten Vorbenutzung nicht anders bewertet. Die zuständige Abteilung des EPA muss dem Antrag eines Einsprechenden, einen Zeugen zu einer angeblichen öffentlichen Vorbenutzung und zur Offenbarung eines bestimmten Merkmals durch diese Vorbenutzung anzuhören, in der Regel stattgeben, bevor sie entscheidet, dass die angebliche öffentliche Vorbenutzung weder nachgewiesen ist noch einen neuheitsschädlichen Stand der Technik darstellt, weil das betreffende Merkmal dabei nicht offenbart wurde. In T 2003/08 vom 31. Oktober 2012 date: 2012-10-31 befand es die Kammer – anders als die Einspruchsabteilung – für angemessen, die Zeugen zu vernehmen, weil deren Aussage Einfluss auf den Ausgang des Verfahrens haben könnte.
In T 246/17 hatte die Einspruchsabteilung es abgelehnt, die im Zusammenhang mit einer Vorbenutzung angebotenen Zeugen zu hören, und die offenkundige Vorbenutzung als durch die Beweisunterlagen hinreichend erwiesen angesehen. Nach Auffassung der Kammer war jedoch nicht auszuschließen, dass eine – zusätzlich zur Auswertung der Beweisunterlagen durchgeführte – Zeugenvernehmung zu einer anderen Beurteilung der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit und somit zu einem anderen Ergebnis geführt hätte. Die Offenbarungen in den Dokumenten O1 (Handbuch) und O2 (Broschüre) ließen nämlich offen, ob das beschriebene Instrument bestimmte Merkmale aufwies. Da das Instrument aber tatsächlich hergestellt und verkauft worden war, hätte es selbst – anders als die Dokumente O1 (Handbuch) und O2 (Broschüre) – diese Merkmale offenbaren können, was sich bei einer Zeugenvernehmung hätte feststellen lassen. Die Kammer sah darin einen wesentlichen Verfahrensmangel, der eine Aufhebung der angefochtenen Entscheidung rechtfertigte (s. z. B. T 716/06, T 1363/14 und T 314/18; ein jüngeres und überaus detailliertes Beispiel zu der Frage findet sich in T 1738/21, nachstehend zusammengefasst in Kapitel III.G.3.3.4).
In T 1100/07 (angebliche Vorbenutzung, Verkauf eines Fahrzeugs mit einem bestimmten Merkmal) hatte die erste Instanz die Vernehmung von zwei Zeugen abgelehnt. Die Kammer befand, dass die erste Instanz einen der vorgeschlagenen Zeugen zu Recht abgelehnt hatte, weil dieser lediglich seine schriftliche Erklärung zum Inhalt von Dokumenten hätte bestätigen können, die aussagekräftig genug waren, sodass seine Vernehmung keinen Einfluss auf die endgültige Entscheidung gehabt hätte. Dagegen entschied die Kammer, dass die Einspruchsabteilung die Vernehmung des zweiten Zeugen, Herrn F., hätte anordnen müssen. Zwar sei der Antrag auf Vernehmung spät gestellt worden, und die Vernehmung hätte die Anberaumung einer neuen mündlichen Verhandlung erforderlich gemacht. Da für die Entscheidung der Einspruchsabteilung aber maßgeblich war, dass das Vorliegen eines einzigen technischen Merkmals nicht belegt werden konnte, hätte Herr F. vernommen werden müssen, war doch vorgebracht worden, dass Herr F. in der Lage gewesen wäre, das Vorliegen dieses Merkmals nachzuweisen. Die Entscheidung, Herrn F. nicht zu vernehmen, war falsch und hat den Ausgang des Verfahrens unter Umständen beeinflusst.
In T 273/16 hatte der Beschwerdeführer (Einsprechende) während des Einspruchsverfahrens mehrfach die Vernehmung von zwei Zeugen zur behaupteten Vorbenutzung einer gewerblichen Geschirrspülmaschine gefordert. Die Einspruchsabteilung entschied, die Zeugen nicht zu laden. Für die Entscheidung der Einspruchsabteilung schien dabei maßgeblich gewesen zu sein, dass die Fertigung bzw. der Verkauf dieser Geschirrspülmaschine nicht belegt worden war. Die beiden Zeugen waren aber vom Einsprechenden genau zu dieser Frage angeboten worden. Die Entscheidung, die Zeugen nicht zu vernehmen, war daher falsch und hat den Ausgang des Verfahrens unter Umständen beeinflusst.
In T 2386/19 hatte die Einspruchsabteilung von Amts wegen in der mündlichen Verhandlung erstmals infrage gestellt, ob das Merkmal M6 durch die Vorbenutzung offenbart war. Der Beschwerdeführer (Einsprechende) hatte hierauf mit einem Antrag auf Zeugenvernehmung reagiert, um eine behauptete, durchaus relevante Tatsache zu belegen. Die Einspruchsabteilung hatte den Antrag auf Zeugenanhörung zurückgewiesen, obwohl er frühestmöglich eingereicht worden war und die Einspruchsabteilung das Ergebnis der Anhörung als relevant für das Ergebnis des Falls angesehen hatte. Die Kammer entschied, dass die Ablehnung der Zeugenanhörung gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör des Beschwerdeführers gemäß Art. 113 (1) EPÜ verstoßen und möglicherweise das Ergebnis der angefochtenen Entscheidung beeinflusst hatte.
In T 778/21 (Waschmaschine) ging es um die allgemeinen Grundsätze zur Beurteilung einer behaupteten Vorbenutzung. Die Kammer führte vier grundsätzlich durchzuführende Schritte auf (detaillierte Ausführung in den Gründen). Die Schritte 1 bis 3 umfassen die Prüfung der Substantiierung der Vorbenutzung, die Ermittlung der Beweismittel, die der Einsprechende als Träger der Beweislast anbietet, und die Würdigung aller vom Einsprechenden angebotenen Beweismittel. Je nach Ergebnis dieser Bewertung folgt in Schritt 4 eine von drei Varianten, je nachdem, ob die aktenkundigen Beweismittel des Einsprechenden die behaupteten Tatbestände bestätigen oder ob Zweifel bleiben, und ob der Einsprechende eine Augenscheinseinnahme oder Zeugenanhörung beantragt hat (erste Variante) oder nicht (zweite Variante) (zu den Konsequenzen siehe detaillierte Gründe). Belegen die Beweismittel des Einsprechenden die Vorbenutzung (dritte Variante), werden die (Gegen-)Beweise des Patentinhabers relevant und müssen beurteilt werden. Bleiben Aussagen einer eidesstattlichen Versicherung oder sonstigen Zeugenerklärung umstritten, muss dem Antrag eines Beteiligten auf Anhörung des (verfügbaren) Zeugens stattgegeben werden. Die Kammer verwies auf G 2/21 (Nrn. 41, 42, 44 der Gründe) sowie auf T 474/04 (ABl. 2006, 129). In T 778/21 wandte die Kammer diese allgemeinen Grundsätze für die Beurteilung der behaupteten Vorbenutzung an. Sie führte Schritt 1 bis 3 der Beweiswürdigung durch. Schritt 4 entfiel auf die dritte Variante, weshalb dem Antrag des Patentinhabers auf Augenscheinseinnahme der Waschmaschine und auf Anhörung der Verfasser der eidesstattlichen Versicherungen als Zeugen stattzugeben war. Basierend auf den vorgebrachten Eingaben und Beweismitteln befand die Kammer, dass der Einsprechende ordnungsgemäß begründet und belegt hatte, dass die Maschine der Vorbenutzung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden war, und die entsprechenden Tatbestände mittels Beweismitteln belegt hatte. Aufgrund der aktenkundigen Beweismittel waren alle Merkmale von Anspruch 1 als durch die Vorbenutzung offenbart anzusehen. Daher war der Antrag des Patentinhabers über die Aufnahme von (Gegen-)Beweisen (Schritt 4, dritte Variante) zu berücksichtigen. Eine abschließende Entscheidung darüber, ob alle relevanten Aspekte der Vorbenutzung, darunter auch die öffentliche Zugänglichkeit, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen wurden, konnte erst nach Bewertung der Beweismittel, deren Berücksichtigung der Patentinhaber beantragt hatte, d. h. nach Augenscheinseinnahme der Maschine und Anhörung der Zeugen, ergehen. Der Fall wurde zur weiteren Entscheidung an die erste Instanz zurückverwiesen.