4.2. Fallweise Beurteilung der Beweiskraft
4.2.4 Internet-Archive und -Veröffentlichungen
Im Fall T 649/20, in dem die Kammer mit dem Status eines wissenschaftlichen Beitrags in einer Fachzeitschrift (D1) als Dokument des Stands der Technik mit unklarem Veröffentlichungsdatum befasst war, wurden verschiedene Beweisstücke vorgelegt. Die Kammer befand, dass D14 (Auszug aus der öffentlichen Datenbank der Zentralbibliothek für Medizin) bereits für sich genommen hinreichend bewies, dass D1 tatsächlich vor dem Prioritätstag öffentlich zugänglich war. Der Bibliothekar, der die Zeitschrift entgegengenommen und in der Datenbank eingetragen hatte, aus der D14 stammte, war in jedem Fall im Sinne von Art. 54 (2) EPÜ Mitglied der Öffentlichkeit (s. auch T 834/09 und vergleiche mit T 1050/12). Die neuere Entscheidung T 649/20 steht im Gegensatz zu dem älteren Fall T 314/99. Vgl. T 364/20.
In der älteren Entscheidung T 314/99, in der es um die öffentliche Zugänglichkeit einer Diplomarbeit ging, war die Kammer der Auffassung, diese Diplomarbeit sei nicht schon dadurch der Öffentlichkeit zugänglich gewesen, dass sie in das Archiv der Bibliothek des chemischen Instituts der Universität aufgenommen worden war. Was das als Beweismaterial angeführte "Logbuch" angehe, so handle es sich dabei um ein handschriftlich geführtes Notizbuch, in dem die Bibliothekare die im Archiv eingehenden Diplomarbeiten vermerken. Das Logbuch an sich stellte keine der Öffentlichkeit zugängliche Publikation dar, sondern ein internes Dokument für das Bibliothekspersonal. Nach eingehender Prüfung der Vermerke ins Logbuch entschied die Kammer, dass sich nicht mit Sicherheit feststellen lasse, ob die betreffenden Einträge tatsächlich vor dem fraglichen Prioritätstag vorgenommen wurden, und nicht ausgeschlossen werden könne, dass sie erst später – als der Zeitpunkt des Eintrags aus irgendeinem Grund Bedeutung erlangte – hinzugefügt wurden.
In T 91/98 stellte der Beschwerdegegner (Einsprechende) die erfinderische Tätigkeit infrage, und zwar auf der Grundlage der Entgegenhaltung (8), einem Eintrag in der LexisNexis-Datenbank. Er erbrachte aber keinen Beweis dafür, wann der Eintrag in die Datenbank aufgenommen und somit der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden war. Ebenso wenig konnte das in der Kopfzeile des Eintrags genannte Datum (3. September 1985) als Tag der Zugänglichmachung gelten, weil es nicht unbedingt mit dem Veröffentlichungstag der Informationen übereinstimmen und noch nicht einmal richtig sein müsse. Nach gründlicher Prüfung der Erklärungen des Beschwerdegegners und der von ihm vorgelegten eidesstattlichen Erklärung gelangte die Kammer zu der Überzeugung, dass sich nicht zweifelsfrei ermitteln lasse, an welchem Tag die in der Entgegenhaltung (8) enthaltenen Informationen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden.
In T 2284/13 (Wayback-Maschine als Stand der Technik) akzeptierte die Kammer eine Kombination von D5, einer unvollständigen Archiv-Version einer Webseite (im Internet-Archiv "Wayback Machine" web.archive.org; öffentlich zugänglich 2004 mit nur kleinen Bildern) und D5', einem neueren Download (2009) der Webseite (mit Vollbildansicht), als Nachweis einer Vorveröffentlichung. Deshalb musste bei der Beurteilung der früheren Offenbarung von D5 die erweiterte Abbildung des "MRTT-Kraftstoffsystems" in D5' als Teil dieser Offenbarung mit berücksichtigt werden.
In T 1698/08 sah die Kammer keinen Grund, ihr Ermessen zur Ablehnung des Beweises auszuüben, weil dieser weder als irrelevant noch als unnötig bezeichnet werden konnte. Eine Ablehnung konnte in jedem Falle nicht auf Aussagen im Dokument zur Genauigkeit der darin enthaltenen Fakten begründet werden. Solche Aussagen betreffen die Beweiskraft eines Dokuments. Nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung (G 3/97, ABl. 1999, 245, Nr. 5 der Gründe) kann die Kammer frei beurteilen, in welchem Umfang die Angaben in einem Dokument glaubwürdig sind; dabei kann eine solche Erklärung eine Rolle spielen. In der vorliegenden Sache ging es im Zusammenhang mit der umstrittenen Gültigkeit einer Vollmacht um einen unbeglaubigten (Internet-)Auszug aus einem Handelsregister.
Der Beschwerdegegner kann nicht einfach allgemein die mangelnde Zuverlässigkeit der digitalen Bibliothek Internet Archive (www.archive.org) geltend machen, um den Tag der Zugänglichmachung eines dort archivierten Dokuments infrage zu stellen (T 286/10, wo die allgemeine Beweisführung durch Abwägen der Wahrscheinlichkeit angewandt wurde; bestätigt in T 2227/11, T 1711/11, T 353/14, T 545/08, T 1066/13). S. auch Kapitel I.C.3.2.3 "Internet-Offenbarungen".
Im Ex-parte-Fall T 3000/19 zur Verwendung elektronischer Beweismittel in Verfahren basierte die Entscheidung über die Patentversagung auf einem YouTube-Video als Stand der Technik, das am Tag der Entscheidung der Kammer nicht mehr aufrufbar war. Der Kammer zufolge sollten Prüfungsabteilungen dafür sorgen, dass bei einer als Stand der Technik herangezogenen Internet-Offenbarung das Veröffentlichungsdatum gesichert festgestellt wird und dass ihr Inhalt in der an diesem Tag öffentlich zugänglichen Version dauerhaft abrufbar ist. Bei der Akteneinsicht gemäß Art. 128 EPÜ sind die Rechte Dritter sowie der Öffentlichkeit gebührend zu berücksichtigen. Da Inhalte im Internet sich mit der Zeit ändern können, sind bei der Heranziehung elektronischer Beweismittel, etwa von Internet-Dokumenten oder Videos, als Offenbarung aus dem Stand der Technik, die der Patentierbarkeit der Anmeldung entgegengehalten werden, angemessene Maßnahmen zur Erfassung, Speicherung und Sicherung besagter Beweismittel zu ergreifen, um sie dem Entscheidungsorgan oder betroffenen Beteiligten, wie dem Anmelder, einem Einsprechenden, ihren jeweiligen Vertretern oder Mitgliedern der Öffentlichkeit, unter angemessenen Bedingungen zugänglich zu machen. Siehe Kapitel III.K.3.4.4 und III.W.3. Siehe auch T 3071/19.
Siehe auch Kapitel III.G.4.3.4 c).