5.2.2 Fälle, in denen die Beweislast umgekehrt wurde
Für eine unzureichende Offenbarung ist in der Regel der Einsprechende beweispflichtig. Siehe auch Kapitel II.C.6.8. und II.C.7.2. zu Fragen der medizinischen Verwendung, und G 2/21 (ABl. 2023, A85), Nrn. 74 und 77 der Gründe.
In der Entscheidung T 1076/21 wird die Beweislast im Beschwerdeverfahren nach einem Widerruf des Patents durch die Einspruchsabteilung beschrieben (siehe Orientierungssatz und ausführliche Zusammenfassung von T 1076/21 in Kapitel II.C.9.1.). Die Kammer in T 1076/21 führte aus, dass nach einer Entscheidung der Einspruchsabteilung zur Gewährung eines Einwands wegen unzureichender Offenbarung der Patentinhaber in der Beschwerde begründen muss, warum diese Entscheidung falsch ist. Die Beweislast in der Sache (und folglich das Risiko der Nichterweislichkeit der betreffenden Tatsache) wird jedoch nur umgekehrt, wenn sich die Beurteilung der Einspruchsabteilung, wonach die vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel zur Erfüllung der Beweispflicht des Einsprechenden ausreichend waren, als richtig erweist. Unter Verweis auf die Rechtsprechung erklärte die Kammer in T 1076/21 auch, dass die Vortrags- und Beweislast für die Behauptung einer unzureichenden Offenbarung vom Einsprechenden auf den Patentinhaber übergehen kann, nachdem der Einsprechende seine Beweislast erfolgreich erfüllt hat, indem er ausreichende Tatsachen und Beweismittel vorgelegt hat, um die Vermutung der Rechtsbeständigkeit zu entkräften (T 338/10, T 2218/16). Diese Umkehr wird allerdings nur durch ausreichendes Vorbringen in der Sache ermöglicht; formale Gründe alleine, wie etwa das bloße Vorliegen der Entscheidung der Einspruchsabteilung über den Widerruf des Patents, führen nicht zu einer Beweislastumkehr in der Sache. Wird die Argumentation in der angefochtenen Entscheidung an sich für falsch befunden, kann sich die Beweislast in der Sache nicht umkehren (T 499/00, T 1608/13). In T 585/92 wurde bloß befunden, dass der Beschwerdeführer die Beweislast zur Begründung der Beschwerde trägt. Eine Umkehr der Beweislast in der Sache durch die angefochtene Entscheidung wurde dabei nicht impliziert.
Die Kammer in T 63/06 hatte erklärt, dass nach Erteilung des Patents eine Vermutung der Rechtsbeständigkeit gilt. Wie gewichtig die zur Entkräftung dieser Vermutung vorgebrachten Argumente sein müssen, hängt von der Stärke der Vermutung ab. Unterschieden wurde sodann zwischen zwei Fällen: Eine "starke Vermutung" liegt vor, wenn das Patent detaillierte Angaben dazu enthält, wie die Erfindung auszuführen ist, einschließlich Versuchsergebnissen für eine bestimmte Eigenschaft. In diesem Fall bedarf es detaillierter Angaben oder Beweismittel, z. B. in Form von Vergleichsversuchen, um eine unzureichende Offenbarung nachzuweisen (T 63/06, Nr. 3.3.1 a) der Gründe). Enthält das Patent hingegen keine Informationen dazu, wie ein Merkmal der Erfindung umzusetzen ist, besteht nur eine schwache Vermutung, dass die Erfindung ausreichend offenbart ist. In diesem Fall kann der Einsprechende sich der Beweislast entledigen, indem er plausibel argumentiert, dass das allgemeine Fachwissen die Fachperson nicht befähigen würde, dieses Merkmal in die Praxis umzusetzen. Dann trägt der Patentinhaber die Beweislast für die gegenteilige Behauptung, dass das allgemeine Fachwissen die Fachperson durchaus zur Ausführung der Erfindung befähigen würde (T 63/06, Zusammenfassung dieser Rechtsprechung, z. B. in T 338/10, T 518/10, T 347/15, T 1889/15, Ansatz systematisiert in T 1076/21).
In T 480/11, T 1529/17 und T 518/10 waren die Kammern der Auffassung, dass die Einsprechenden ihrer Beweispflicht in der Sache durch Einreichung von Versuchsdaten nachgekommen sind. In T 188/18 befand die Kammer, dass der Einsprechende seiner Beweispflicht in der Sache nicht durch Einreichung von Versuchsdaten, sondern durch begründete Argumente nachgekommen ist (s. auch T 66/07, T 428/21, T 262/11, T 347/15). In T 325/13 erklärte die Kammer sogar, dass der Einsprechende keine weiteren Beweise erbringen müsse, weil der Mangel auf der Grundlage des angeführten Stands der Technik und des einfachen physikalisch-chemischen Kontexts plausibel sei. All diese Entscheidungen sind in T 1076/21 angeführt.
In der Sache T 100/15 ergab sich aus der Hinzufügung des Begriffs "kontrolliert" ein unzumutbarer Aufwand für die Fachperson, die versuchte, die Erfindung auszuführen. Es war unbestritten, dass das angefochtene Patent keine Definition für die kontrollierte Abkühlung enthielt. Der Einsprechende hatte im Beschwerdeverfahren plausibel nachgewiesen, dass die Fachperson die erforderlichen Informationen über die Durchführung der kontrollierten Abkühlung nicht aus dem angefochtenen Patent entnehmen konnte. So musste der Patentinhaber den Gegenbeweis erbringen.
In der Sache T 1299/15 war in der Patentschrift kein Ausführungsbeispiel für die Verstelleinrichtung beschrieben, sodass der Beschwerdeführer den Nachweis der mangelnden Ausführbarkeit nicht anhand eines beschriebenen Ausführungsbeispiels führen, sondern nur mit Plausibilitätsüberlegungen stützen konnte, was er auch tat. Damit ging die Beweislast für den Nachweis des Gegenteils auf den Patentinhaber (Beschwerdegegner) über.
In der Sache T 603/22 (Verfahren zum Zerkleinern) stritten die Beteiligten über die Frage, wem die Beweislast zufiel. Die Entscheidung ist ein Beispiel für einen Fall, in dem die Kammer vorliegend zu dem Schluss kam, dass sich die Beweislast umkehrt und demnach der Patentinhaber (Beschwerdeführer) nachweisen muss, dass die Fachperson Pulver gemäß Anspruch 1 ohne unzumutbaren Aufwand hätte erhalten können. Die Kammer merkte hierzu an, dass keines der Beispiele des Patents der beanspruchten Partikelgrößenverteilung entsprach. Dies galt ebenfalls für die weiteren, im Verlauf des Verfahrens angeführten Beispiele. Das wiederholte Scheitern, erfindungsgemäße Pulver beizubringen, machte die Behauptung der Beschwerdegegnerinnen glaubhaft, wonach die Fachperson die Erfindung nicht ausführen konnte.
In den folgenden Fällen, in denen der Patentinhaber der Beschwerdeführer war, sahen die Kammern keinen Grund für eine Beweislastumkehr und die Beweislast blieb dementsprechend auch in der Beschwerde weiterhin beim Einsprechenden: T 499/00, T 355/05, T 1052/13, T 1608/13, T 720/17, T 55/18, T 1708/22 (unter Anwendung von T 1076/21). In T 127/22 bekräftigte die Kammer zwar die vom Beschwerdeführer (Patentinhaber) zitierten Feststellungen von T 1076/21 aber entschied, dass im vorliegenden Fall weitere Gründe einen Übergang der Beweislast auf den Patentinhaber rechtfertigten.
Zu jüngeren Entscheidungen, die G 2/21 (ABl. 2023, A85) anführen, siehe T 1394/21 und T 2790/17, wobei in letzterer entschieden wurde, dass zwar in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung Versuchsdaten vorgelegt worden waren, es aber auf der Grundlage dieser Daten nicht glaubhaft war, dass die beanspruchte therapeutische Wirkung erzielt wurde; nachveröffentlichte Beweismittel konnten nicht berücksichtigt werden und die Beweislast lag beim Beschwerdegegner (Patentinhaber).