2.3. Anwendung der Auslegungsgrundsätze des Wiener Übereinkommens in Entscheidungen der Beschwerdekammer
2.3.2 Systematische Auslegung
In G 2/12 stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass die systematische Auslegung die zweite Säule bei der Auslegung einer Rechtsvorschrift und ihrer Begriffe ist (s. G 1/88, Nr. 3 der Gründe; G 9/92 date: 1994-07-14, ABl. 1994, 875, Nr. 1 der Gründe; G 4/95, ABl. 1996, 412, 421 ff., Nrn. 4 und 5 der Gründe; G 3/98, Nr. 2.2 der Gründe; G 4/98, ABl. 2001, 131, 143, Nr. 4 der Gründe). Bei der Anwendung dieser zweiten Auslegungsweise ist die Bedeutung des betreffenden Wortlauts im Kontext der entsprechenden Vorschrift selbst zu ermitteln. Zudem muss die Vorschrift unter Berücksichtigung ihrer Stellung und Funktion innerhalb einer kohärenten Gruppe mit ihr zusammenhängender Rechtsnormen ausgelegt werden (s. auch G 1/18, Nr. IV.2 der Gründe, wo dieser Ansatz bestätigt und angewandt wird).
In J 7/21 entschied die Juristische Beschwerdekammer, dass R. 22 EPÜ keine Anwendung auf Fälle von Gesamtrechtsnachfolge findet. Ihr zufolge müssen im Zusammenhang mit einer systematischen Auslegung die Bedeutung von „Rechtsübergang" in den Bestimmungen von R. 22 EPÜ unter Berücksichtigung der Stellung des Begriffs innerhalb einer zusammenhängenden Gruppe damit verbundener Rechtsnormen definiert werden. R. 22 EPÜ implementiert Art. 71 und 72 EPÜ mit Bezug auf Patentanmeldungen als Vermögensgegenstände. Art. 71 und 72 EPÜ beziehen sich lediglich auf rechtsgeschäftliche Eigentumsübergänge. Eine andere Möglichkeit wird im EPÜ nicht behandelt, und einige der Formerfordernisse von Art. 72 EPÜ können im Fall einer Gesamtrechtsnachfolge infolge des Ablebens einer natürlichen Person nicht erfüllt werden. Darüber hinaus muss das Europäische Patentregister gemäß R. 143 (1) w) EPÜ Einträge bezüglich der Rechte an einer Anmeldung oder einem europäischen Patent und deren Übertragung enthalten, sofern die Ausführungsordnung ihre Eintragung vorsieht. Daher lässt sich aus dieser Bestimmung ableiten, dass nicht alle, sondern ausschließlich die explizit in der Ausführungsordnung genannten Rechtsübergänge einer Eintragung bedürfen.
Im Fall T 695/18, in dem es um die Anwendbarkeit von R. 139 EPÜ ging, merkte die Kammer an, dass Rechtsbehelfe mit der seltenen Fähigkeit, Verfahren am EPA ganz (z. B. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand) oder teilweise (z. B. Antrag auf Überprüfung) wiederzubeleben, nur nach Zahlung der vorgeschriebenen Gebühr zur Verfügung stehen (Art. 112a EPÜ und Art. 122 EPÜ; R. 104 bis 110 EPÜ und R. 136 EPÜ). Dass bei R. 139 EPÜ keine Gebühr anfällt, steht in starkem Gegensatz dazu. Darüber hinaus und vor allem unterliegen diese außerordentlichen Rechtsbehelfe mit Wiederbelebungsfähigkeit klaren und kodifizierten Fristen sowie weiteren, genau eingegrenzten Umständen und Bedingungen, um bei allen Beteiligten für Rechtssicherheit zu sorgen. Dagegen handelt es sich bei R. 139 EPÜ lediglich um eine isolierte, als Ausführungsvorschrift des EPÜ eingestufte Bestimmung. Die Rechtssicherheit, wie sie von den Garantien, die aus den Artikeln des EPÜ bezüglich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und Antrag auf Überprüfung ausdrücklich hervorgehen oder abgeleitet sind, gewährleistet wird, ist – auch aus systematischer Sicht – von höherem Interesse. Sie hat vor dem untergeordneten Wert von R. 139 EPÜ und deren Rolle in Bezug auf die "wahre" im Gegensatz zur "anscheinenden" Absicht einer Partei Vorrang. Die Kammer hielt ferner die Feststellung für überzeugend, dass in der frühen Rechtsprechung der Beschwerdekammern die Platzierung von R. 139 EPÜ (damals R. 88 EPÜ 1973) lediglich in den Ausführungsvorschriften die Annahme aufkommen lasse, es handele sich nur um eine untergeordnete Bestimmung, deren Anwendung die Anhängigkeit eines Verfahrens vor dem EPA aus anderem Grund voraussetze und die dem EPA keine ursprüngliche Zuständigkeit zur Vornahme von Berichtigungen zu jedem beliebigen Zeitpunkt zugestehe (s. J 42/92, Nr. 4 der Gründe).