H. Auslegung des EPÜ
5. Die Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutze des gewerblichen Eigentums
In G 3/93 (ABl. 1995, 018) befand die Große Beschwerdekammer, dass die PVÜ das EPA zwar nicht offiziell bindet, da das EPÜ – gemäß seiner Präambel – ein Sonderabkommen im Sinne von Art. 19 PVÜ darstellt, das EPÜ jedoch eindeutig nicht gegen die in der PVÜ enthaltenen Grundsätze zum Thema Priorität verstoßen soll. In G 2/98 (ABl. 2001, 413), bekräftigte die Große Beschwerdekammer diesen Grundsatz erneut und bemühte sich bei der Auslegung von Bestimmungen des EPÜ zur Priorität um Kohärenz mit der Pariser Verbandsübereinkunft. Insbesondere analysierte die Große Beschwerdekammer den Wortlaut der entsprechenden Bestimmungen sowie Ziel und Zweck der anwendbaren Vorschrift in der PVÜ, um bei der Auslegung der PVÜ und dem EPÜ für Kohärenz zu sorgen. S. auch G 3/98 (ABl. 2001, 62), G 1/22 und G 2/22 (ABl. 2024, A50), T 844/18 und Kapitel II.D. "Priorität"
In G 1/15 (ABl. 2017, A82) verwies die Große Beschwerdekammer bei der Auslegung von mehreren Prioritäten und Teilprioritäten auf die PVÜ. Die Absätze 2 bis 4 von Art. 88 EPÜ entsprachen demnach Art. 4F und 4H PVÜ, obgleich mit der ausdrücklichen Bestimmung, dass für einen Patentanspruch mehrere Prioritäten beansprucht werden können (Art. 88 (2) Satz 2 EPÜ). Der Begriff "Merkmale" in Art. 88 (3) EPÜ (s. auch Art. 4F und 4H PVÜ) darf nicht als einzelnes Merkmal verstanden werden, sondern als Gegenstand, wie er in einem Anspruch definiert oder in Form eines Ausführungsbeispiels offenbart oder als Beispiel in der Beschreibung angegeben ist (s. G 2/98, Nrn. 4 und 6.2 der Gründe). Daher kann in Anbetracht schon allein des Wortlauts von Art. 88 (2) und (3) EPÜ das Argument, das Konzept der Teilpriorität gebe es nicht im europäischen Patentsystem, allein nicht verfangen, was die PVÜ bestätigt.
Der Großen Beschwerdekammer in den verbundenen Verfahren G 1/22 und G 2/22 zufolge sind die Bestimmungen zur Priorität in der PVÜ nicht als Ansammlung von Ausnahmeregeln zu betrachten, die es eng auszulegen gilt. Ganz im Gegensatz dazu müssen die Vorschriften der PVÜ und das eigenständige Prioritätssystem des EPÜ derart ausgelegt werden, dass der allgemeine Zweck des Prioritätsrechts weitmöglichst erfüllt wird.
In T 844/18 erinnerte die Kammer daran, dass das EPÜ ein Sonderabkommen im Sinne von Art. 19 PVÜ ist, weshalb die Anwendung seiner Vorschriften nicht den Grundsätzen zur Priorität der PVÜ widersprechen darf. Daher muss der Begriff "any person" im EPÜ und der PVÜ gleich ausgelegt werden (s. auch im vorliegenden Kapitel III.H.2.3.1 und III.H.4.).