III. Gemeinsame Vorschriften für die Verfahren vor dem EPA
T. Anmeldungen durch Nichtberechtigte
Artikel 61 EPÜ regelt, welche Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen, wenn einer Person, die nicht der Anmelder ist, von einem nationalen Gericht der Anspruch auf Erteilung eines europäischen Patents zugesprochen wird. Weitere Einzelheiten sind in R. 16 und 17 EPÜ enthalten. Zur Aussetzung des Verfahrens vor dem EPA im Falle einer Vindikationsklage s. auch R. 14 (1) EPÜ in Kapitel III.M.3 .
In G 3/92 (ABl. 1994, 607) hatte die Große Beschwerdekammer darüber zu entscheiden, ob Art. 61 (1) b) EPÜ 1973 (Art. 61 EPÜ blieb bei der Revision zum EPÜ 2000 inhaltlich unverändert) unter folgenden Umständen zur Anwendung kommt:
Der Beschwerdeführer hatte 1988 eine europäische Patentanmeldung eingereicht. Durch den Recherchenbericht erfuhr er von der Existenz einer früheren Anmeldung aus dem Jahr 1985, die ein Dritter, dem er die Erfindung 1982 auf vertraulicher Basis offenbart hatte, im Wesentlichen für dieselbe Erfindung eingereicht hatte. Diese frühere Anmeldung wurde veröffentlicht, galt aber 1986 als zurückgenommen, weil die Prüfungsgebühr nicht entrichtet worden war. Der Beschwerdeführer stellte daraufhin beim Comptroller des Patentamts des Vereinigten Königreichs den Antrag, den Anspruch auf Erteilung eines Patents für die in der früheren europäischen Anmeldung offenbarte Erfindung nach Section 12 (1) UK Patents Act 1977 ihm zuzusprechen, was auch geschah. Der Beschwerdeführer war damit nach Section 12 (6) UK Patents Act 1977 berechtigt, im Vereinigten Königreich eine neue Anmeldung einzureichen, die so behandelt werden sollte, als hätte sie denselben Anmeldetag wie die frühere europäische Anmeldung. Der Beschwerdeführer reichte dann 1990 gemäß Art. 61 (1) b) EPÜ 1973 eine neue europäische Patentanmeldung für die in der früheren Anmeldung offenbarte Erfindung ein.
Die vorlegende Juristische Beschwerdekammer vertrat in ihrer Zwischenentscheidung J 1/91 date: 1992-03-31 (ABl. 1993, 281) die Auffassung, dass die Entscheidung des Comptrollers eine rechtskräftige Entscheidung im Sinne von Art. 61 EPÜ 1973 sei. Allerdings seien die nationalen Gerichte nur für die Entscheidung über den Anspruch auf das Patent zuständig, nicht aber befugt, unmittelbar nach dem EPÜ für Abhilfe zu sorgen, da dieser Punkt vom EPA nach Art. 61 EPÜ 1973 zu regeln sei.
Die Große Beschwerdekammer gelangte zu folgendem Schluss: Wenn durch rechtskräftige Entscheidung eines nationalen Gerichts der Anspruch auf Erteilung eines europäischen Patents einer anderen Person als dem Anmelder zugesprochen worden ist und diese andere Person unter Einhaltung der ausdrücklichen Erfordernisse des Art. 61 (1) EPÜ 1973 gemäß Art. 61 (1) b) EPÜ 1973 eine neue europäische Patentanmeldung für dieselbe Erfindung einreicht, ist die Zulassung dieser neuen Anmeldung nicht daran gebunden, dass zum Zeitpunkt ihrer Einreichung die ältere, widerrechtliche Anmeldung noch vor dem EPA anhängig ist.
Die Juristische Beschwerdekammer befand daraufhin in der Entscheidung J 1/91 vom 25. August 1994 date: 1994-08-25, dass die Voraussetzungen des Art. 61 (1) b) EPÜ 1973 erfüllt gewesen seien, und verwies die Patentanmeldung daher zur weiteren Entscheidung an die Eingangsstelle zurück.
In J 1/23 widersprach die Juristische Beschwerdekammer der Behauptung des Beschwerdeführers, dass die Entscheidung des nationalen Gerichts nicht als Entscheidung anzusehen sei, die dem Dritten den Anspruch auf die Hälfte der europäischen Patentanmeldung im Sinne des Art. 61 EPÜ zuspreche. Obwohl es sich bei der Entscheidung des nationalen Gerichts unbestritten um eine rechtskräftige Entscheidung handelte, machte der Beschwerdeführer geltend, das nationale Gericht könne nicht über den Anspruch auf die Anmeldung entscheiden, weil eine sich auf die "Patentanmeldungen" beziehende Passage im nationalen (Beschwerde-)Verfahren aus dem Antrag des Dritten gestrichen worden sei. Der Kammer zufolge war vor allem zu klären, ob das EPA in dieser Sache die Entscheidung als rechtskräftige Entscheidung über den Anspruch im Sinne des Art. 61 EPÜ aufgefasst hatte. Im vorliegenden Fall implizierte der Anspruch auf die in der Anmeldung angegebene Erfindung inhärent den Anspruch auf die Erteilung eines europäischen Patents auf der Grundlage der Anmeldung – auch in Ermangelung einer ausdrücklichen Bezugnahme auf "alle Patentanmeldungen und etwaige darauf erteilte Patente" (s. auch in Kapitel IV.A.4.).