3.8.3 Berichtigung der Zurücknahme der Anmeldung
In J 4/03 stellte die juristische Kammer fest, dass der Antrag auf Widerruf der Zurücknahme gestellt wurde, nachdem die Zurücknahme im Europäischen Patentblatt, dem offiziellen Veröffentlichungsmedium des EPA, bekannt gegeben worden war. Die Öffentlichkeit hatte also bereits die Information erhalten, dass die Anmeldung hinfällig geworden sei, sodass die Hauptvoraussetzung für die Zulassung der Berichtigung nicht erfüllt war. S. auch J 7/06.
In J 14/04 wies die Juristische Beschwerdekammer den Antrag auf Berichtigung der Zurücknahme der Anmeldung zurück. Sie stimmte mit J 10/87 überein, dass das Interesse der Öffentlichkeit darin bestehe, sich auf die offiziellen Bekanntmachungen des EPA verlassen zu können. Die Juristische Kammer vertrat die Auffassung, dass das Europäische Patentregister eine offizielle Veröffentlichung darstelle (s. auch J 37/03, J 38/03), und da die Öffentlichkeit zum Zeitpunkt, als der Antrag auf Widerruf gestellt worden sei, einen gebührenfreien Zugang zum Register im Internet gehabt habe, sei ihr der Antrag auf Widerruf auch an dem Tag zugänglich gewesen, an dem dieser im Register verzeichnet worden sei. Es spiele keine Rolle, ob die Anmeldung an diesem Tag auch wirklich eingesehen worden sei. Auch war die Juristische Kammer nicht der Meinung, dass Art. 122 (6) EPÜ 1973 mutatis mutandis auf Fälle von Berichtigungen nach R. 88 EPÜ 1973 angewendet werden könne.
Die Juristische Beschwerdekammer befand in J 25/03 (ABl. 2006, 395), dass eine Eintragung in das Europäische Patentregister ab dem Tag, an dem sie darin erscheint, auch als öffentliche Bekanntmachung gilt wie ihre Veröffentlichung im Europäischen Patentblatt. Der Antrag auf Berichtigung der Zurücknahme der Patentanmeldung wurde zurückgewiesen, und die Juristische Kammer fügte hinzu, dass es im Interesse der Rechtssicherheit unerheblich ist, dass zwischen dem Hinweis auf die Zurücknahme im Patentregister und dem Hinweis auf den Antrag auf Widerruf der Zurücknahme nur vier Tage vergangen sind. In einem Fall, in dem ein Dritter zum Zeitpunkt dieser Bekanntmachung auch nach einer etwaigen Einsicht in die vollständige Akte keinen Grund zu der Annahme gehabt hätte, dass die Zurücknahme ein Irrtum war und später widerrufen werden könnte, wäre die Rechtssicherheit in unvertretbarer Weise beeinträchtigt, wenn ein solcher Widerruf doch noch erfolgen dürfte.
In J 1/11 hielt die Juristische Beschwerdekammer fest, dass sowohl das Europäische Patentregister (nach Art. 127 EPÜ) als auch das Europäische Patentblatt (nach Art. 129 a) EPÜ) offizielle Informationsquellen der Öffentlichkeit seien. Nichts lasse darauf schließen, dass eine der beiden Quellen offizieller, zuverlässiger oder maßgeblicher wäre. Entgegen der Behauptung des Beschwerdeführers seien Eintragungen im Patentblatt ebenso wenig "in Stein gemeißelt" wie Eintragungen im Register; sie könnten entweder nach R. 140 EPÜ oder mit einer Entscheidung berichtigt werden. Was die Funktion der Unterrichtung der Öffentlichkeit betreffe, könne die Kammer aber keinen grundlegenden Unterschied zwischen Register und Patentblatt herleiten. Die Juristische Beschwerdekammer entschied, dass der Antrag des Beschwerdeführers, die Zurücknahme seiner Anmeldung im Wege einer Mängelberichtigung nach R. 139 EPÜ zu widerrufen, zurückzuweisen ist. Die Juristische Kammer führte aus, dass die explizite Zurücknahme einer anhängigen Patentanmeldung von höchster Bedeutung für den Anmelder ist, weil er damit sämtliche Rechtswirkungen der Anmeldung wie etwa die Begründung eines vorläufigen Schutzrechts endgültig aufgibt. Angesichts dieser Folgen ist deshalb bei der Erklärung der Zurücknahme einer Anmeldung äußerste Vorsicht geboten. Eine Berichtigung von Mängeln in den beim EPA eingereichten Unterlagen nach R. 139 EPÜ ist nur unter genau definierten Bedingungen möglich. Im vorliegenden Fall war der Antrag auf Widerruf der Zurücknahme über einen Monat nach der Zurücknahme und nach deren Eintragung im Europäischen Patentregister beim EPA eingegangen. Jedoch kann die Zurücknahme nicht widerrufen werden, nachdem sie der Öffentlichkeit offiziell mitgeteilt wurde. Im weiteren Sinne spiegelt sich dies auch in dem – in den Zivilrechtssystemen zahlreicher EPÜ-Vertragsstaaten verankerten – Grundsatz wider, dass eine Absichtserklärung nur widerrufen werden kann, wenn der Widerruf den Adressaten vor oder gleichzeitig mit der Erklärung erreicht. Siehe auch J 2/15 und J 3/22.
In J 6/13 führte die Juristische Beschwerdekammer aus, dass ein Anmelder durch seine dem EPA mitgeteilten Verfahrenshandlungen gebunden ist, sofern die Verfahrenserklärung eindeutig und vorbehaltlos war (J 19/03). Sie erklärte, es könne keinen Widerruf einer Zurücknahme geben, wenn Dritte keinen Anlass zu der Annahme hätten, die Zurücknahme sei irrtümlich erfolgt. Sie verwies auf J 12/03 (in der zustimmend J 25/03 zitiert wird), wo es hieß, dass "ein Antrag auf Widerruf der Zurücknahme einer Patentanmeldung ... nicht mehr zulässig [ist], wenn zu dem Zeitpunkt, zu dem er gestellt wird, im europäischen Patentregister bereits auf die Zurücknahme hingewiesen wurde und ein Dritter zum Zeitpunkt der offiziellen öffentlichen Bekanntmachung auch nach einer Akteneinsicht keinen Grund zu der Annahme gehabt hätte, dass die Zurücknahme ein Irrtum war und später widerrufen werden könnte". Die Juristische Beschwerdekammer erklärte, dass im Interesse der Rechtssicherheit für Dritte und unter Berücksichtigung der öffentlichen Funktion des Registers ein Widerruf nur möglich ist, wenn Dritte bei der Akteneinsicht Anlass zu der Annahme haben, dass die Zurücknahme irrtümlich erfolgte. Die Juristische Beschwerdekammer musste prüfen, ob ein solcher Anlass im vorliegenden Fall gegeben war. Sie vertrat die Auffassung, dass gestützt auf J 12/03 und J 18/10 die – durchaus vielversprechenden – Aussichten der Anmeldung nicht für die Schlussfolgerung ausreichten, dass eine spätere Zurücknahme offensichtlich oder auch nur potenziell im Widerspruch dazu stand. Patentanmeldungen können aufgrund von geschäftsstrategischen Erwägungen, Investorenwünschen, Portfolioumschichtungen, Vereinbarungen mit Mitbewerbern usw. zurückgenommen werden. Aus finanziellen Überlegungen werden die meisten erteilten europäischen Patente nur in einer begrenzten Zahl von Ländern validiert. Solche Überlegungen können jederzeit ins Spiel kommen, ob gleich nach der Zahlung von Jahresgebühren oder nach der Zustellung eines positiven Recherchenberichts. Die günstigen Aussichten der Anmeldung im vorliegenden Fall würden deshalb Dritte nicht zu der Annahme führen, dass die Zurücknahme möglicherweise irrtümlich erfolgt ist. Auch der mit dem Fall beauftragte Vertreter war nicht zu diesem Schluss gekommen.
In J 2/15 hatte der Anmelder auf eine "grundlegende Unstimmigkeit" zwischen den Entscheidungen in den Fällen J 10/87 und J 4/97 einerseits und J 25/03 und J 1/11 andererseits in Bezug auf die Frage hingewiesen, ob die Veröffentlichung einer Zurücknahme im Europäischen Patenregister deren amtlicher Bekanntmachung gleichkommt. Die Juristische Kammer erkannte an, dass die Argumentation in den jüngsten Entscheidungen aufgrund der Entwicklung der technischen Mittel zu einer geänderten Rechtsprechung geführt hat. Dies könne aber nicht als Unstimmigkeit in der Rechtsprechung angesehen werden in dem Sinne, dass denselben Sachverhalt betreffende Fälle, die gleichzeitig entschieden würden, zu unterschiedlichen Ergebnissen führten und unterschiedlich begründet seien. Die Juristische Beschwerdekammer war der Ansicht, dass diese Unstimmigkeit umfassend in J 1/11 behandelt worden sei, und sah deshalb keine Veranlassung, dies weiter zu vertiefen.
In J 10/08 gelangte die Juristische Beschwerdekammer zu dem Schluss, dass die Öffentlichkeit durch die im Europäischen Patentregister veröffentlichten Angaben nicht fehlinformiert oder irregeführt worden war, da sie im vorliegenden Fall gleichzeitig über die Zurücknahme und den Antrag auf deren Widerruf informiert worden und dadurch hinreichend gewarnt war, dass hier möglicherweise ein Fehler vorliegt. Somit konnte die Zurücknahme der Anmeldung durch Berichtigung nach R. 139 EPÜ widerrufen werden.
In J 6/19 stellte die Juristische Beschwerdekammer fest, dass der Antrag auf Zurücknahme, den der Anmelder widerrufen wollte, uneingeschränkt, eindeutig und bedingungslos gewesen und somit wirksam war. Unter Berufung auf J 25/03, in der vom Hinweis auf die Zurücknahme im Europäischen Patentregister bis zur Aufnahme des Antrags auf Widerruf der Zurücknahme in die Akte vier Tage vergangen waren, befand sie daher, dass es für ihre Entscheidung nicht relevant war, dass der Antrag auf Widerruf am selben Tag eingegangen war, an dem die Zurücknahme veröffentlicht wurde. Das Zeiterfordernis der R. 139 EPÜ war nicht erfüllt.