4.3.7 Vorbringen, das im erstinstanzlichen Verfahren vorzubringen gewesen wäre oder dort nicht mehr aufrechterhalten wurde – Artikel 12 (6) Satz 2 VOBK
In mehreren Fällen entschieden die Kammern, Vorbringen nicht zuzulassen, das im Einspruchsverfahren erhobene Einwände behandelte, weil der Patentinhaber ausreichend Gelegenheiten gehabt hatte, auf diese einzugehen (s. die nachstehend zusammengefassten T 825/20 und T 1326/21 sowie die in vorstehendem Kapitel V.A.4.3.7 d) zusammengefasste T 847/20). In anderen Fällen hingegen erachteten die Kammern es für gerechtfertigt, wenn ein mit mehreren Einwänden der Gegenstandserweiterung konfrontierter Patentinhaber nicht bereits im Einspruchsverfahren Hilsanträge für alle möglichen Kombinationen einzelner Änderungen einreicht (T 1311/21, T 1928/22). Siehe auch Entscheidungen im Kapitel V.A.4.3.7 c) und insbesondere T 141/20, in der die Kammer hervorhob, dass es nicht nur einer Möglichkeit, sondern auch eines Anlasses bedarf, Hilfsanträge einzureichen.
In T 825/20 zielten die erstmals mit der Beschwerdebegründung eingereichten vier Hilfsanträge darauf ab, den von der Einspruchsabteilung gegen den Hauptantrag erhobenen Einwand mangelnder erfinderischer Tätigkeit zu entkräften. Die Einspruchsabteilung hatte die Beteiligten jedoch bereits in ihrer vorläufigen Einschätzung auf diesen Punkt aufmerksam gemacht und dem Beschwerdeführer Gelegenheit zur Erwiderung gegeben, die dieser ergriffen und mehrere neue Hilfsanträge eingereicht hatte, die sich jedoch von denen im Beschwerdeverfahren unterschieden. Die Kammer kam zu dem Ergebnis, dass auch Letztere bereits im erstinstanzlichen Einspruchsverfahren hätten eingereicht werden können und müssen. Ähnlich auch T 1820/22.
Ein Gegenbeispiel liefert T 487/20: Hier war der Patentinhaber nach Auffassung der Kammer in der mündlichen Verhandlung nicht zur sofortigen Reaktion verpflichtet. Die Einspruchsabteilung hatte die Einwände des Einsprechenden nach Art. 100 c) EPÜ in ihrer vorläufigen Einschätzung als nicht überzeugend beurteilt; die Argumente, auf die der mit der Beschwerdebegründung eingereichte Hilfsantrag II einging, waren in der mündlichen Verhandlung nur kurz diskutiert worden.
In T 1326/21 erklärte der Beschwerdeführer (Patentinhaber), dass er seinen Hauptantrag im Beschwerdeverfahren, der bloß zwei der drei in der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung erörterten Einwände nach Art. 100 c) EPÜ adressierte, zum damaligen Zeitpunkt nicht einreichen konnte, weil die Einspruchsabteilung zu dem Ergebnis gelangt war, dass alle drei Einwände gerechtfertigt waren, und einen solchen Antrag nicht zugelassen hätte. Die Kammer verwies jedoch darauf, dass die betreffenden Einwände bereits in der Einspruchsschrift geltend gemacht und begründet worden waren. Zudem hatte die Einspruchsabteilung in der Anlage zur Ladung eine vorläufige Einschätzung zu allen Einwänden abgegeben hatte. Somit hatte der Beschwerdeführer ausreichend Gelegenheit gehabt, Anträge einzureichen und auf die betreffenden Einwände einzugehen. Der Patentinhaber hatte also im Einspruchsverfahren auf die Einreichung von Änderungen, die die Einwände nach Art. 100 c) EPÜ entkräftet hätten, bewusst verzichtet und hatte lediglich mit Argumenten darauf reagiert.
In T 1311/21 jedoch vertrat die Kammer die Auffassung, dass, wenn die Einspruchsabteilung gleichzeitig über mehrere Einwände der Gegenstandserweiterung entschieden hat und daraufhin ein einziger Änderungsantrag eingereicht wird, mit dem alle im erstinstanzlichen Verfahren erhobenen Einwände ausgeräumt werden, Art. 12 (6) VOBK die Kammer nicht daran hindert, einen neuen Antrag zum Verfahren zuzulassen, mit dem nur bestimmte dieser Einwände ausgeräumt werden. Ebenso entschied die Kammer in T 1928/22, wo im Einspruchsverfahren mehrere Einwände der Gegenstandserweiterung erhoben worden waren, auf die der Patentinhaber jeweils einzeln, nicht aber in allen möglichen Kombinationen eingegangen war. Siehe auch T 849/22 (zusammengefasst in Kapitel V.A.4.3.7 b), betreffend einen Einwand nach R. 80 EPÜ und einen unrichtigen Neuheitseinwand).
- T 1125/23
Im Verfahren T 1125/23 wurde der Hauptantrag der Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) unstrittig erstmals mit der Beschwerdebegründung vorgelegt. Er unterschied sich von den Ansprüchen des erteilten Patents lediglich in der Streichung des abhängigen Anspruchs 4. Die Beschwerdegegnerin beantragte, den Hauptantrag nach Art. 12 (6) VOBK nicht im Beschwerdeverfahren zuzulassen..
Die Beschwerdeführerin trug vor, durch die Streichung des Anspruchs 4 werde der einzige Einwand, auf dem die angefochtene Entscheidung hinsichtlich des Patents in der erteilten Fassung beruhe, ausgeräumt. Wie von der Kammer festgestellt, war allerdings unstreitig, dass der Einwand der mangelnden Ausführbarkeit gegen den Anspruch 4 des erteilten Patents, auf dem die angefochtene Entscheidung hinsichtlich des Patents in der erteilten Fassung beruhte, bereits in der Einspruchsschrift erhoben worden. Die Einspruchsabteilung befand diesen Einwand in ihrer der Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügten Mitteilung vorläufig für überzeugend. Die dort angeführten Gründe übernahm die Einspruchsabteilung auch in der angefochtenen Entscheidung als tragende Gründe. Sie ging lediglich ergänzend auf Gegenargumente der Beschwerdeführerin ein, ohne dass dies aber nach Ansicht der Kammer zu einer Änderung der Argumentation der Einspruchsabteilung in ihrer Mitteilung geführt hätte. Daher bestand nach Auffassung der Kammer bereits im Hinblick auf diese Mitteilung Veranlassung, den vorliegenden Hauptantrag einzureichen. Dies werde auch durch die Tatsache unterstrichen, dass die Patentinhaberin zu diesem Zeitpunkt Hilfsanträge einreichte, die sich von vorherigen Hilfsanträgen nur dadurch unterschieden, dass Anspruch 4 gestrichen war. Der vorliegende Hauptantrag wäre daher bereits im Einspruchsverfahren vorzubringen gewesen.
Zudem befand die Kammer, dass die Streichung zu einer völligen Neugewichtung des Verfahrensgegenstandes führen, den faktischen und rechtlichen Rahmen ändern und eine neue Diskussion hinsichtlich Neuheit und erfinderischer Tätigkeit erforderlich machen würde. Die Kriterien der Komplexität und der Verfahrensökonomie (Art. 12 (4) VOBK) sprachen daher nach Ansicht der Kammer gegen eine Zulassung des Hauptantrags im Beschwerdeverfahren. Die Kammer entschied daher, den Hauptantrag der Beschwerdeführerin gemäß Art. 12 (6) VOBK nicht im Beschwerdeverfahren zuzulassen.