4.5.4 Zulassung neuer Anträge
Eine Fallkonstellation, in der die Kammern häufig davon ausgingen, dass die betreffenden Anträge früher hätten eingereicht werden müssen, wird in Kapitel V.A.4.5.4 a) und Kapitel V.A.4.5.4 f) dargestellt: Der Patentinhaber darf grundsätzlich nicht abwarten, welche Einwände die Kammer in ihrer vorläufigen Auffassung aufgreift, bevor er auf diese mit geänderten Anspruchssätzen reagiert. Weitere Entscheidungen, die zu dem Ergebnis kamen, dass die Anträge des Patentinhabers früher hätten eingereicht werden müssen, sind im Folgenden zusammengefasst. Allerdings können sich außergewöhnliche Umstände nach Ansicht eines Teils der Rechtsprechung auch in Fällen, in denen die Anträge früher hätten eingereicht werden müssen, aus anderen Gesichtspunkten ergeben (s. Kapitel V.A.4.5.4 j) und V.A.4.5.4 k)).
(i) Änderungen hätten erstinstanzlich eingereicht werden müssen
In T 2703/16 unterschied sich Anspruch 1 des Hauptantrags und des Hilfsantrags 1, die erstmals weniger als zwei Wochen vor der mündlichen Verhandlung eingereicht wurden, dadurch von Anspruch 1 des der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegenden Anspruchssatzes und des mit der Beschwerdebegründung eingereichten Anspruchssatzes, dass bestimmte einschränkende Merkmale gestrichen worden waren. Dadurch hatte sich das beanspruchte Verfahren erheblich geändert. Nach Ansicht der Kammer hatte der Beschwerdeführer durch die Streichung der Beschränkungen, die während des Prüfungsverfahrens eingeführt und bis zu dessen Abschluss aufrechterhalten worden waren, den Fall "zurückgesetzt", wodurch die angefochtene Entscheidung irrelevant wurde. Damit war ein neuer Fall ("fresh case") entstanden. Die Kammer vertrat den Standpunkt, dass sie, sollte sie die neuen Anträge zulassen, gezwungen wäre, entweder erstmals über einen erheblich veränderten Gegenstand zu entscheiden, was dem Hauptzweck von Beschwerdeverfahren zuwiderlaufen würde, oder die Angelegenheit an die erste Instanz zurückzuweisen, was eindeutig der Verfahrensökonomie widersprechen würde. Die Kammer sah zudem Probleme nach Art. 84 und 83 EPÜ. Vor diesem Hintergrund entschied die Kammer, die neuen Anträge nicht zum Beschwerdeverfahren zuzulassen.
In T 1421/20 vertrat die Kammer den Standpunkt, dass die strittigen Hilfsanträge (0b', 0b'-1 und 0c'), die eingereicht worden waren, nachdem die Kammer die Ladung zur mündlichen Verhandlung erlassen hatte, und die Merkmale enthielten, die bis dahin in keinem der eingereichten Ansprüche enthalten und vor der Prüfungsabteilung erörtert worden waren, während des erstinstanzlichen Verfahrens hätten eingereicht werden können und müssen. Darüber hinaus war die Kammer der Ansicht, dass sie Anträge, die solche Merkmale umfassten, nicht ohne unzumutbaren Aufwand behandeln konnte, da nicht einmal sicher sei, dass der geeignete Stand der Technik in der Akte enthalten war. In Ausübung ihres Ermessens nach Art. 13 VOBK entschied die Kammer, die Anträge nicht zum Verfahren zuzulassen.
Ebenso hätten in T 2154/19 die in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer beantragten Änderungen nach Auffassung der Kammer schon im Einspruchsverfahren eingereicht werden können, nachdem die Einspruchsabteilung den Hauptantrag in der mündlichen Verhandlung für nicht gewährbar erachtet hatte. Der Umstand, dass zu diesem Zeitpunkt mehrere unterschiedliche Anspruchssätze hätten eingereicht werden müssen, um den unterschiedlichen im Einspruchsverfahren erörterten Neuheitsangriffen zu begegnen, stellte laut Kammer keinesfalls einen außergewöhnlichen Umstand im Sinne von Art. 13 (2) VOBK dar.
In T 1058/20 (ex parte) erklärte die Kammer, dass die Art. 12 (2), (4) und (6) VOBK zugrunde liegenden Grundsätze auch bei der Beurteilung des Vorliegens außergewöhnlicher Umstände nach Art. 13 (2) VOBK angewandt werden können. So kann eine Änderung, die zu Beginn eines Beschwerdeverfahrens nicht zugelassen worden wäre (weil sie bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätte eingereicht werden können und müssen), normalerweise auch nicht zu einem späteren Zeitpunkt im Beschwerdeverfahren gerechtfertigt werden. Im vorliegenden Fall verneinte die Kammer das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände, die die Zulassung des neuen Hilfsantrags 1 – der den Gegenstand auf nur eine der zuvor beanspruchten Ausführungsformen beschränkte – gerechtfertigt hätten. Das Einreichen eines auf diese Ausführungsform beschränkten Antrags wäre im Prüfungsverfahren sinnvoll gewesen und die Umstände hätten sich weder hinsichtlich der angefochtenen Entscheidung noch im Beschwerdeverfahren geändert. Darüber hinaus hätte die Zulassung des neuen Anspruchsantrags den Rahmen des Verfahrens verschoben. Die Kammer wies darauf hin, dass die Entscheidung, den neuen Antrag nicht bereits im erstinstanzlichen Verfahren einzureichen, gegen den Grundsatz der Verfahrensökonomie verstoßen hatte. Sie auch T 1639/18. Zum Streichen von Ansprüchen oder Anspruchsalternativen siehe auch Kapitel V.A.4.5.4 j).
(ii) Beteiligter geht auf in der vorläufigen Einschätzung erhobenen neuen Einwand zunächst lediglich mit Argumenten ein
In T 428/18 argumentierte der Beschwerdeführer (Anmelder), dass der geänderte Hauptantrag, der während der mündlichen Verhandlung eingereicht worden war, um einen in der vorläufigen Einschätzung der Kammer erhobenen neuen Einwand auszuräumen, zugelassen werden sollte, weil er den Einwand erst in der mündlichen Verhandlung verstanden habe. Nach Ansicht der Kammer war jedoch der Einwand in ihrer Mitteilung ausreichend, um den Beschwerdeführer über ihre Bedenken in Kenntnis zu setzen. Es war dann Sache des Beschwerdeführers zum frühestmöglichen Zeitpunkt abzuwägen, ob die Anmeldung geändert werden musste, und sorgfältig zu prüfen, ob die ursprünglich eingereichte Anmeldung eine Grundlage für eine solche Änderung bot. Der Beschwerdeführer entschied sich, in dem mit seiner Erwiderung eingereichten Hauptantrag den Einwand nicht durch eine Änderung auszuräumen, sondern indem er argumentierte, die ursprünglich eingereichte Anmeldung biete eine Grundlage für die beanstandeten Merkmale. Deshalb erachtete die Kammer die vom Beschwerdeführer angeführten Umstände nicht für außergewöhnlich.
Im Inter-partes-Verfahren T 1937/19 hätte der Beschwerdegegner (Patentinhaber) der Kammer zufolge direkt auf die Einwände erwidern können und müssen, die der Beschwerdeführer in seiner Replik hinsichtlich Hilfsantrag 2 erhoben hatte. Die Kammer betonte, dass das Abwarten der vorläufigen Einschätzung der Kammer, bevor entsprechende Änderungen vorgenommen werden, nicht dem Zweck der VOBK entspricht.
(iii) Meinung der Kammer in der mündlichen Verhandlung bestätigt im Wesentlichen die vorläufige Einschätzung
In T 1870/15 argumentierte der Beschwerdeführer, dass die Anspruchsauslegung der Kammer in der mündlichen Verhandlung nicht vorhersehbar war. Die Kammer stellte jedoch fest, dass ihre Mitteilung nach Art. 15 (1) VOBK eine vorläufige Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit des beanspruchten Gegenstands gegenüber Dokument D1 als nächstliegenden Stand der Technik enthielt, das im Verfahren vor der Prüfungsabteilung bereits eingehend erörtert worden war. Die in der mündlichen Verhandlung dargelegte Anspruchsauslegung der Kammer war lediglich eine weitere Erläuterung ihrer Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit, die keinerlei Einfluss auf die Bestimmung der Unterscheidungsmerkmale des beanspruchten Gegenstands gegenüber Dokument D1 hatte und voll und ganz mit der zuvor übermittelten vorläufigen Einschätzung zu dieser Fragestellung in Einklang war. Dies wurde von der Kammer als ein gewöhnlicher Verlauf der Dinge bei der Diskussion in der mündlichen Verhandlung angesehen.
In T 545/19 unterschied sich die von der Kammer während der mündlichen Verhandlung gegebene Begründung von der kürzeren aus der vorläufigen Meinung der Kammer. Die Kammer befand jedoch, dass der Beschwerdegegner gleichwohl von ihrer negativen vorläufigen Auffassung zu dem betreffenden Merkmal in Kenntnis gesetzt worden war und daher nicht überrascht sein konnte, als sie in der mündlichen Verhandlung zu einem negativen Ergebnis gelangte.
(iv) Anträge, die verspätet eingereichte Anträge ersetzen
In T 640/20 machte der Beschwerdegegner geltend, dass die Zulässigkeit seiner mit der Beschwerdeerwiderung eingereichten Hilfsanträge erstmals im Bescheid der Kammer nach Art. 15 (1) VOBK hinsichtlich Art. 12 (6) VOBK infrage gestellt worden war. Er betrachtete daher seine in Reaktion auf diesen Einwand eingereichten neuen Antragssätze als zum frühestmöglichen Zeitpunkt vorgelegt. Die Kammer hingegen sah in dieser Verkettung keine außergewöhnlichen Umstände. Insbesondere wies die Kammer darauf hin, dass die Zulässigkeitsbedingungen in Art. 12 VOBK und ihre Anwendung nicht davon abhängen, ob der Einsprechende einen entsprechenden Einwand erhoben hat (s. T 1426/17).
Den Kammern in T 2599/19 und T 380/21 zufolge konnte ihr jeweiliger Hinweis auf erhebliche Probleme in Anträgen, die letztlich unter Verweis auf Art. 12 (6) VOBK nicht zugelassen wurden, das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände nicht stichhaltig rechtfertigen.