4.5.4 Zulassung neuer Anträge
In zahlreichen Ex-parte- wie Inter-partes-Verfahren haben die Kammern betont, dass eine vorläufige Einschätzung der Kammer, die bereits im Verfahren vorgebrachte Einwände bestätigt oder dazu Stellung nimmt, nicht als außergewöhnlicher Umstand im Sinne von Art. 13 (2) VOBK betrachtet werden kann (z. B. T 2778/17 zusammengefasst in Kapitel V.A.4.5.4 a) (i) und die Beispiele unten). Allerdings können sich nach Ansicht eines Teils der Rechtsprechung außergewöhnliche Umstände in diesen Fällen aus anderen Gesichtspunkten ergeben (s. Kapitel V.A.4.5.4 j) und Kapitel V.A.4.5.4 k)).
In verschiedenen Entscheidungen haben die Kammern darauf hingewiesen, dass es im Hinblick auf Art. 13 (2) VOBK unerheblich sei, ob die in der Mitteilung geäußerte vorläufige Meinung von einer vorherigen Stellungnahme oder der angefochtenen Entscheidung abweicht (z. B. T 752/16, T 2610/16, T 1962/17).
Einwände oder Argumente, die im Wesentlichen in der vorläufigen Einschätzung bestätigt wurden, wurden nicht als neue Einwände angesehen, die ein Grund dafür sein könnten, dem Patentinhaber eine weitere Gelegenheit zur Einreichung neuer Anspruchsanträge einzuräumen (z. B. T 3171/19, ex parte). Beispiele finden sich in den Zusammenfassungen und weiteren Verweisen unten in den Abschnitten (ii) und (iii). In einigen dieser Fälle wich die Begründung der Kammer in gewisser Hinsicht von den zuvor erhobenen Einwänden ab (z. B. T 689/15) oder präzisierte/entwickelte die frühere Argumentation weiter (T 1080/15, T 450/20, T 599/21).
(i) Pflicht zur Darlegung, weshalb ein Einwand neu ist
In T 42/17 verwies die Kammer auf die in den Erläuterungen zu Art. 13(2) VOBK (in CA/3/19, Abschnitt VI) festgelegten Grundsätze und insbesondere auf Folgendes: Bringt der Beteiligte vor, dass die Kammer einen Einwand erstmals in ihrer Mitteilung erhoben hat, so muss er genau darlegen, warum dieser Einwand neu war und nicht unter die zuvor von der Einspruchsabteilung oder dem Beschwerdegegner (Einsprechenden) erhobenen Einwände fiel. Im vorliegenden Fall waren die strittigen Fragen bereits im erstinstanzlichen Verfahren erörtert und vom Beschwerdegegner in seiner Erwiderung auf die Beschwerdebegründung angeführt worden. Somit musste der Beschwerdeführer (Patentinhaber) davon ausgehen, dass die Kammer eine vorläufige Einschätzung äußern könnte, die sich von der Meinung der Einspruchsabteilung unterscheiden würde. Der Beschwerdeführer legte nicht dar, dass die Einschätzung der Kammer einen Einwand enthielt, der nicht schon zuvor erhoben worden war. Siehe ähnlich T 2423/19.
Siehe auch Kapitel V.A.4.5.1 c) allgemein zur Pflicht gemäß Art. 13 (2) VOBK, zum Nachweis außergewöhnlicher Umstände stichhaltige Gründe aufzuzeigen.
(ii) Vorläufige Einschätzung, in der Einwände oder Argumente der Prüfungsabteilung (im Wesentlichen) bestätigt werden
In T 689/15 wurde die Anmeldung u. a. deshalb zurückgewiesen, weil der Gegenstand von Anspruch 1 des damals ersten Hilfsantrags nicht erfinderisch gegenüber den kombinierten Offenbarungen der Dokumente D1 und D2 war. Die Bewertung der erfinderischen Tätigkeit durch die Kammer in ihrer vorläufigen Einschätzung basierte auf denselben Dokumenten, und die Kammer ermittelte denselben nächstliegenden Stand der Technik (D1). Doch die Kammer erkannte nur einen Unterschied zu D1, während die Prüfungsabteilung zwei Unterschiede erkannt hatte. Daher bestimmte die Kammer eine objektive technische Aufgabe, die weniger weit gefasst war als die von der Prüfungsabteilung definierte. Allerdings bestätigte die Kammer die Einschätzung der Prüfungsabteilung, dass die Fachperson die Lehre von D2 im aus D1 bekannten Verfahren umsetzen würde. Deshalb war die Kammer nicht überzeugt, dass sich die in ihrer vorläufigen Einschätzung dargelegten Argumente von den in der angefochtenen Entscheidung dargelegten Argumenten so weit unterschieden, dass sie eine ganz neue Argumentationslinie darstellten. Folglich sah die Kammer keine außergewöhnlichen Umstände, die die Zulassung des Hilfsantrags im Verfahren gerechtfertigt hätten.
In ähnlicher Weise entsprach in T 2279/16 die Kombination von Dokumenten, auf die sich der Einwand gegen die erfinderische Tätigkeit stützte, den die Kammer in ihrer vorläufigen Einschätzung erhob, exakt der, die zur Zurückweisung der Anmeldung geführt hatte, weshalb dies kein neuer Einwand der Kammer war (auch wenn die Begründung der Kammer bei bestimmten Einzelheiten etwas anders ausfiel). Die Kammer erkannte keine außergewöhnlichen Umstände.
In T 599/21 befand die Kammer, dass die Heranziehung einer Passage der Beschreibung zur Bestätigung der breiten Auslegung durch die Prüfungsabteilung eines Begriffs in den Ansprüchen den Beschwerdeführer nicht mit ihm bis dahin unbekannten Tatsachen konfrontiert und keinen "außergewöhnlichen Umstand" darstellt, der im vorliegenden Fall Änderungen am Beschwerdevorbringen hätte rechtfertigen können.
Siehe auch die folgenden Fälle, in denen nach Ansicht der Kammer in ihrer vorläufigen Einschätzung kein neuer Einwand erhoben wurde, der die Einreichung neuer Anträge gerechtfertigt hätte: T 14/20 (Prüfungsabteilung hatte ihrer Beurteilung bereits das gleiche Verständnis der fraglichen Merkmale und Definitionen zugrunde gelegt), T 1080/15 (von der Kammer erhobener Einwand war lediglich eine Weiterentwicklung des ursprünglich von Prüfungsabteilung erhobenen Einwands), T 597/16 (Feststellungen der Kammer im Einklang mit der angefochtenen Entscheidung), T 2486/16 (Kammer wich zwar bei einigen Punkten von der Begründung der Prüfungsabteilung zur erfinderischen Tätigkeit ab, gelangte jedoch zum selben Ergebnis), T 1294/16 (Kammer führte D7 als Beweis dafür an, dass ein Argument der Prüfungsabteilung auf allgemeinem Fachwissen basierte; außergewöhnliche Umstände jedoch aus anderen Gründen anerkannt, s. Kapitel V.A.4.5.5 k)), T 167/17 (Kammer erklärte lediglich, detailliert und durch Hervorhebung aller maßgeblichen Aspekte, warum sie vorläufig der Meinung war, dass sich die Prüfungsabteilung nicht geirrt hatte, als sie befand, dass der Hauptantrag die Erfordernisse von Art. 76 (1) EPÜ nicht erfüllte), T 1639/18 (Kammer argumentierte im Wesentlichen genauso wie die Prüfungsabteilung), T 1058/20 (vorläufige Einschätzung der Kammer bestätigte die Gründe in der angefochtenen Entscheidung lediglich).
(iii) Vorläufige Einschätzung bestätigt (im Wesentlichen) Einwände oder Argumente der Einspruchsabteilung oder Einsprechenden
In T 1187/16 stellte die Kammer Folgendes fest: Falls sämtliche in einer Mitteilung der Kammer behandelten Einwände bereits Gegenstand des bisherigen Verfahrens waren, kann diese Mitteilung das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände im Sinne von Art. 13 (2) VOBK nicht begründen. Im vorliegenden Fall waren diese Einwände insbesondere in der Erwiderung des Beschwerdegegners (Einsprechenden) ausführlich dargelegt worden. Die Kammer kam daher zu dem Schluss, dass der Beschwerdeführer bereits vor Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung ausreichend Gelegenheit gehabt hätte, im Hinblick auf die bestehenden Einwände vorsichtshalber Hilfsanträge einzureichen. Verfahrensökonomische Aspekte sowie die Tatsache, dass der Beschwerdeführer den Hilfsantrag mehr als einen Monat vor der mündlichen Verhandlung eingereicht hatte, waren vor diesem Hintergrund nach Meinung der Kammer unbeachtlich (siehe jedoch demgegenüber die Auffassung in den Kapiteln V.A.4.5.1 a) und V.A.4.5.1 d)).
In T 121/19 stellte die Kammer fest, dass die Tatsache, dass sich die Kammer einem Argument der Einsprechenden anschließt, weder überraschend noch unvorhersehbar ist, sondern in der Natur der Sache eines einer Entscheidungsinstanz aufgegebenen Rechtsfindungsprozesses liegt.
In T 121/20 reichte der Beschwerdegegner (Patentinhaber) in Reaktion auf die vorläufige Einschätzung der Kammer Hilfsantrag 1 ein und argumentierte, dass aus besagter Einschätzung hervorgehe, dass unter den verschiedenen Einwänden der unzulässigen Erweiterung des Beschwerdeführers nur einer überzeugend schien, und die Änderungen, die die anderen Einwände ausräumen sollten, zur Erfüllung der Erfordernisse von Art. 123 (2) EPÜ dementsprechend nicht notwendig seien. Die Kammer merkte jedoch an, dass die vorläufige Einschätzung den Beteiligten vor allem Gelegenheit geben soll, ihre Argumente sorgfältig vorzubereiten, nicht aber, weitere Eingaben zu machen.
In mehreren Entscheidungen wurde die Tatsache, dass die Einschätzung der Kammer in ihrer Mitteilung nach Art. 15 (1) VOBK oder in der mündlichen Verhandlung von der angefochtenen Entscheidung abwich, nicht als außergewöhnlicher Umstand im Sinne von Art. 13 (2) VOBK gewertet.
Die Kammer in T 2610/16 beispielsweise akzeptierte die Argumentation des Beschwerdegegners (Patentinhabers) nicht, wonach die betreffende Änderung eine Reaktion auf die Mitteilung nach Art. 15 (1) VOBK darstelle und keine Notwendigkeit bestanden habe, die betreffende Änderung im Einspruchsverfahren einzureichen, da das Patent, wie erteilt, aufrechterhalten wurde. Vielmehr betonte die Kammer, dass der entsprechende (in der Mitteilung enthaltene) Einwand bereits in der Einspruchsbegründung vorgetragen und in der Beschwerdebegründung wiederholt worden war. Unter diesen Umständen stellte nach Auffassung der Kammer die Tatsache, dass sie in der Mitteilung eine von der angefochtenen Entscheidung abweichende Meinung vertreten hatte, keinen stichhaltigen Grund für das Vorliegen eines außergewöhnlichen Umstands im Sinne von Art. 13 (2) VOBK dar. Siehe auch T 752/16 (zusammengefasst in Kapitel V.A.4.5.4 h)).
In T 1962/17 folgte die Kammer dieser Rechtsprechung (mit Verweis auf T 764/16 und T 2610/16). Sie merkte dazu auch an, dass sie damit an der Praxis vor der Änderung der Verfahrensordnung zum 1. Januar 2020 festhielt (siehe T 1906/17). Weitere Beispiele finden sich in T 1897/16, T 172/17, T 1422/17, T 1569/17, T 1717/17, T 1962/17.
Auch in anderen Entscheidungen behandelten die Kammern die Frage, ob sie mit einem Einwand in der vorläufigen Einschätzung über den Rahmen des bereits zuvor im Verfahren erhobenen Einwandes oder seiner Tatsachenbehauptungen hinausgegangen seien.
In T 2539/16 verneinte die Kammer dies und hob hervor, dass sie allenfalls die Argumente des Beschwerdeführers im Rahmen der bereits vorgetragenen Tatsachenbehauptungen präzisiert hatte.
Ähnlich wies die Kammer in der Entscheidung T 2775/17 das Argument des Beschwerdegegners zurück, wonach er erst durch die Lektüre der Mitteilung und der darin geäußerten vorläufigen Meinung der Kammer in der Lage gewesen sei, den Inhalt der gegen den Hilfsantrag 2 erhobenen Einwände zu verstehen. Nach Ansicht der Kammer wurden durch ihre Mitteilung keine neuen Aspekte eingeführt.
In T 1891/16 war der Klarheitseinwand gegen Anspruch 1 des vierten Hilfsantrags, der in der Mitteilung der Kammer geäußert worden war, zwar in der Erwiderung des Einsprechenden explizit nur hinsichtlich Anspruch 1 des ersten Hilfsantrags vorgebracht worden. Dasselbe strittige Merkmal war jedoch unverändert auch im vierten Hilfsantrag vorhanden. Nach Auffassung der Kammer war dies für den Patentinhaber leicht erkennbar. Folglich hätte der Patentinhaber, so die Kammer, den fünften Hilfsantrag unmittelbar als Antwort auf die Beschwerdeerwiderung des Einsprechenden einreichen können und sollen, und nicht erst als Antwort auf den Ladungsbescheid der Kammer.
In T 2632/18 merkte die Kammer hinsichtlich des vorliegenden Falls an, dass in der Mitteilung der Kammer nach Art. 15 (1) VOBK keine neuen Einwände erhoben worden waren. Sie hatte lediglich Gründe enthalten, weshalb die Argumente des Beschwerdeführers hinsichtlich Neuheit im Zusammenhang mit Merkmal (d) nicht als überzeugend betrachtet wurden.
In T 450/20 betonte die Kammer, dass ein Beteiligter einen Einwand innerhalb des zuvor abgesteckten Rahmens präzisieren kann, ohne dass dies automatisch eine Änderung seines Beschwerdevorbringens darstellt, was das Einreichen eines neuen Anspruchsantrags rechtfertigen würde. Dies gelte ebenfalls für eine Kammer, die von einem Beteiligten eingeführte Argumente aufgreift und präzisiert (Verweis auf T 1891/20 vom 15. November 2021 date: 2021-11-15). Die Entscheidung T 719/22 folgte T 450/20 und verneinte das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände. Ähnlich T 1656/20 (mit Verweis auf T 1891/20 und T 2563/17) and T 3258/19.