4.5.4 Zulassung neuer Anträge
Die in Kapitel V.A.4.5.4 f) oben beschriebenen Grundsätze gelten auch, wenn die Kammer ihre Meinung ändert, diese jedoch im Wesentlichen Einwände enthält, die Beteiligte bereits früher im Verfahren erhoben hatten. Ob die Meinung der Kammer von einer früheren vorläufigen Einschätzung abweicht, wurde in derartigen Fällen als unerheblich betrachtet.
In T 752/16 etwa war es nach Ansicht der Kammer im Hinblick auf Art. 13 (2) VOBK unerheblich, ob die in der zweiten Mitteilung nach Art. 15 (1) VOBK geäußerte, geänderte vorläufige Meinung von einer vorherigen Stellungnahme oder der angefochtenen Entscheidung abweicht. Mit einer für die Beteiligten ungünstigen vorläufigen Meinung könne prinzipiell jederzeit im Verfahren vor den Beschwerdekammern vor Verkündung der Entscheidung gerechnet werden. In diesem Zusammenhang rief die Kammer in Erinnerung, dass die Mitteilung einer vorläufigen Meinung nach Art. 15 (1) VOBK primär den Rahmen der mündlichen Verhandlung absteckt und eine die effiziente Vorbereitung der Beteiligten auf diese Verhandlung erleichternde Verfahrensmaßnahme darstellt, nicht hingegen eine "Einladung" zu weiteren Änderungen (siehe z. B. T 1459/11). Ein Patentinhaber könne nicht so lange Änderungen in Reaktion auf die vorgebrachten Einwände eines Einsprechenden zurückhalten, bis er sich mit einer für ihn negativen vorläufigen Meinung einer Beschwerdekammer konfrontiert sieht bzw. den Eindruck gewinnt, dass die Kammer nicht seiner Ansicht und Argumentation folgt (siehe z. B. T 136/16, T 2072/16). Siehe auch T 1187/16 und T 646/17.
Auch in T 995/18 stellte die Kammer fest, dass es im Hinblick auf Art. 13 (2) VOBK unerheblich ist, ob sie während der mündlichen Verhandlung von ihrer in der Mitteilung nach Art. 15 (1) VOBK dargelegten vorläufigen Meinung abweicht. Im Beschwerdeverfahren hat jeder Beteiligter seinen Fall am Anfang des Verfahrens zu präsentieren und dabei ggfs. umgehend auf den Vortrag der Gegenseite zu reagieren und nicht erst dann, wenn er sich mit einer negativen Meinung einer Beschwerdekammer konfrontiert sieht. Die Änderung einer ausdrücklich als vorläufig bezeichneten Meinung infolge der mündlichen Diskussion von Argumenten, die alle aus dem schriftlichen Verfahren bereits bekannt waren, kann keine Rechtfertigung im Sinne des Art. 13 (2) VOBK bieten. Den in der mündlichen Verhandlung eingereichten Hilfsantrag ließ die Kammer jedoch zu, da nach ihrer Auffassung keine Änderung im Sinne des Art. 13 (2) VOBK vorlag (siehe oben Kapitel V.A.4.2.3 d)).
Ebenso erklärte die Kammer in T 924/22, dass es angesichts der Vorläufigkeit der Einschätzung in der Mitteilung nach Art. 15 (1) VOBK ein objektiv mögliches und vorhersehbares Ergebnis der mündlichen Verhandlung ist, wenn sich diese Meinung vor dem Hintergrund des Vorbringens in der mündlichen Verhandlung ändert (denn anderenfalls hätte die mündliche Verhandlung kaum einen Zweck). Daher sei dies nicht als außergewöhnlicher Umstand zu werten.
Weitere Beispiele, in denen die Kammer ihre Meinung im Verlauf des Verfahrens änderte, dies aber im entsprechenden Fall nicht als außergewöhnlichen Umstand gelten ließ, finden sich z. B. in T 24/18 und T 920/20. Dieser Sachverhalt ist von Fällen zu unterscheiden, in denen die Änderung als direkte Reaktion auf eine neue, von der Kammer von Amts wegen vorgebrachte Argumentationslinie eingereicht wird (s. z. B. T 1482/17).