4.5.5 Zulassung neuer Tatsachen, Einwände, Argumente und Beweismittel
In T 908/19 begründete der Beschwerdeführer (Einsprechende) die verspätete Einreichung eines weiteren Dokuments und neuer Angriffslinien erst in der mündlichen Verhandlung damit, dass es weder möglich gewesen wäre, das Dokument früher einzureichen, noch die Einwände früher geltend zu machen, da diese auf die der Ladung beigefügte vorläufige Einschätzung der Kammer hin erhoben worden seien. Die Kammer konnte dieser Argumentation nicht folgen, da ihre vorläufige Einschätzung ausschließlich auf dem Vorbringen der Beteiligten in deren Begründung bzw. Erwiderung beruhte. Auch hat der Beschwerdeführer keinen besonderen Aspekt benannt, der für ihn neu oder überraschend wäre, sondern schien vielmehr durch die Tatsache motiviert, dass sich die Kammer vorläufig zugunsten des Beschwerdegegners geäußert hatte. Siehe auch T 2271/17 (zusammengefasst in Kapitel V.A.4.5.4 g)) und T 1639/18 (ex parte).
Wie in T 662/22 von der Kammer hervorgehoben, stellt die Tatsache, dass die Kammer in einer Frage dem Vorbringen des Patentinhabers gefolgt ist, keinen außergewöhnlichen Umstand dar, der die Zulassung neuen Vorbringens rechtfertigen könnte. Es liegt nämlich in der Natur eines zweiseitigen Verfahrens, dass eine Kammer den Vortrag eines Beteiligten überzeugender als den des anderen Beteiligten findet und infolgedessen zu einer Schlussfolgerung zugunsten eines Beteiligten gelangt (hier in der mündlichen Verhandlung).
In T 2843/19 wies die Kammer darauf hin, dass sie in ihrer Mitteilung gemäß Art. 15 (1) VOBK lediglich ihre vorläufige Auffassung zum Ausdruck gebracht hatte, dass E3 möglicherweise nicht neuheitsschädlich für den Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 sei. Selbst wenn sie damit eine Wertung der vom Beschwerdegegner vorgebrachten Argumente vorgenommen haben mochte, habe sie damit keinen neuen Aspekt aufgeworfen. Darin könne kein außergewöhnlicher Umstand gesehen werden, der das späte Vorbringen des neuen Einwandes der mangelnden erfinderischen Tätigkeit gegenüber E3 erst kurz vor dem anberaumten Termin zur mündlichen Verhandlung rechtfertigen könnte.
In T 73/20 machte der Beschwerdeführer geltend, D7 enthalte experimentelle Nachweise in Erwiderung auf eine in der vorläufigen Einschätzung der Kammer enthaltene Erklärung zu einem angeblichen technischen Vorurteil. Dem widersprach die Kammer und unterstrich, dass ihre Ausführungen keine neuen Fragen aufgeworfen hätten. Sie hätten lediglich darauf hingewiesen, dass das neue Vorbringen des Beschwerdeführers entgegen dem Erfordernis des Art. 12 (3) VOBK nicht durch geeignete Beweismittel gestützt war. Wie die Kammer betonte, kann ein Beteiligter seine Verantwortung gemäß dieser Bestimmung nicht auf die Kammer abwälzen und auf eine negative Einschätzung warten, um dann sein Vorbringen zu vervollständigen.
Siehe auch T 276/17 (keine Zulassung von D 23, da die Kammer in ihrer Mitteilung lediglich eine bereits von der Einspruchsabteilung aufgeworfene Frage aufgegriffen und den Bezug zu einem Argument des Beschwerdeführers hergestellt hatte).
Siehe auch die Entscheidungen, die in Kapitel V.A.4.5.5 g) "Bedeutung einer direkten Antwort auf schriftliches Vorbringen des anderen Beteiligten" zusammengefasst sind, sowie T 684/18, die in Kapitel V.A.4.5.5 h) "Einwand mangelnder erfinderischer Tätigkeit nach erfolglosem Neuheitseinwand" zusammengefasst ist.