3.4. Artikel 112a (1) EPÜ – durch die Entscheidung einer Kammer beschwerter Beteiligter kann einen Antrag auf Überprüfung stellen
3.4.2 Artikel 112a (1) EPÜ – Zur Frage, ob eine Entscheidung vorliegt
In R 4/18 wies die Große Beschwerdekammer darauf hin, dass Niederschriften nicht als Entscheidungen anzusehen seien (siehe auch R 1/22). Sie könne nicht nachvollziehen, wie die Verwendung des Wortes "conclusion" (Schlussfolgerung) anstelle von "preliminary view" (vorläufige Stellungnahme) im Zusammenhang mit den Niederschriften über eine mündliche Verhandlung aus diesen Niederschriften eine Entscheidung machen könne; zudem sei das Beschwerdeverfahren nach der Rücknahme der Beschwerde im überprüften Verfahren durch den Beschwerdeführer (Antragsteller im vorliegenden Fall) beendet worden. Die Große Beschwerdekammer stellte fest, dass es gängige Praxis der Beschwerdekammern sei, Ansichten und Schlussfolgerungen zu Sachfragen zu äußern, die im Laufe mündlicher Verhandlungen aufkommen. Eine Entscheidung in der Sache werde dann am Ende der mündlichen Verhandlung verkündet. Siehe auch Kapitel V.A.2.2. "Beschwerdefähige Entscheidung".
In R 3/22 betrachtete die Große Beschwerdekammer eine Mitteilung des Geschäftsstellenbeamten als Entscheidung im Sinne von Art. 112a (1) EPÜ. Die Große Beschwerdekammer legte die Mitteilung des Geschäftsstellenbeamten als Entscheidung aus, in der die Kammer implizit über die Beschwerde, nicht aber über den Antrag auf Berichtigung entschieden hatte. Die Große Beschwerdekammer stellte fest, dass eine Feststellung dieser Art normalerweise nicht als Entscheidung im Sinne des EPÜ angesehen wird. Zur Vermeidung von Rechtsschutzlücken bedurfte es jedoch einer Ausnahme für den Fall, dass eine Beschwerdekammer ausdrücklich darauf hinwies, dass sie das Beschwerdeverfahren als abgeschlossen betrachtet und es ablehnt, den Fall weiter zu bearbeiten. Siehe auch R 3/22 in diesem Kapitel V.B.4.4.3. Siehe hierzu auch Kapitel III.K.3.1. "Wann liegt eine Entscheidung im Sinne der Regel 111 EPÜ vor?".
In R 5/23 kam die Große Beschwerdekammer zu dem Schluss, dass das Überprüfungsverfahren nach Art. 112a EPÜ gemäß der Ausgestaltung der maßgeblichen Vorschriften jedenfalls keine Entscheidung betreffe, mit der ein Verfahren vor einer Beschwerdekammer dem Betroffenen gegenüber nicht abgeschlossen wird. Die Rechtsprechung, die Überprüfungsanträge gegen Entscheidungen zulässt, auch wenn sie nicht in formeller Form getroffen wurden, die aber über die Beendigung des Beschwerdeverfahrens befinden (s. R 3/22), stünde dieser Schlussfolgerung nicht entgegen. Dementsprechend wurde im vorliegenden Fall der Überprüfungsantrag gegen eine Entscheidung einer Ersatzkammer über die Zurückweisung eines Antrags auf Ablehnung all ihrer Mitglieder wegen Besorgnis der Befangenheit als offensichtlich unzulässig verworfen.
- R 0016/22
Der Überprüfungsantrag in R 16/22 war gegen die Entscheidung T 2175/15 vom 1. April 2022 gerichtet, mit der die Beschwerdekammer (in der Besetzung nach Art. 24 (4) EPÜ) den Antrag auf Vorlage von Fragen an die Große Beschwerdekammer abgelehnt, und den Ablehnungsantrag betreffend die Mitglieder der Kammer in ihrer ursprünglichen Besetzung vom 24. Dezember 2021 als unbegründet zurückgewiesen hatte.
Zwei Wochen vor der mündlichen Verhandlung erklärte die Antragstellerin in einem Schreiben, dass sie nach nochmaliger Überprüfung der Rechtslage der Auffassung sei, dass die Große Beschwerdekammer im Verfahren nach Art. 112a EPÜ die Möglichkeit habe, "zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung den vorliegenden Fall an die Große Beschwerdekammer gemäß Art. 112 EPÜ vorzulegen". Zu Beginn der mündlichen Verhandlung stellte die Antragstellerin auch den formellen Antrag, der Großen Beschwerdekammer in der Besetzung gemäß Art. 112 EPÜ die Rechtsfrage vorzulegen, ob der Anwendungsbereich von Art. 112a EPÜ auf solche rechtskräftigen Entscheidungen einer Beschwerdekammer beschränkt ist, die ein Beschwerdeverfahren abschließen, oder ob dieser Anwendungsbereich sämtliche rechtskräftigen Entscheidungen einer Beschwerdekammer umfasst..
Im Zusammenhang mit diesem Antrag merkte die Große Beschwerdekammer an, dass gegen die Möglichkeit einer solchen Vorlage allerdings bereits der Wortlaut des EPÜ, der nicht nur in Art. 112 EPÜ klar zwischen "Beschwerdekammer" und "Große Beschwerdekammer" unterscheidet, spricht. Sie fügte hinzu, dass die Große Beschwerdekammer entsprechend in Verfahren gemäß Art. 112a EPÜ auch schon entschieden hat, dass sie der Großen Beschwerdekammer keine Rechtsfragen in einem Verfahren nach Art. 112 EPÜ vorlegen kann (R 7/08, bestätigt z. B. in R 8/12). Was das diesbezügliche Vorbringen der Antragstellerin angeht, konnte die Große Beschwerdekammer keine besonderen Gründe im Sinne von Art. 12 VOGBK erkennen, welche eine Berücksichtigung des verspätet vorgebrachten Antrags auf Vorlage an die Große Beschwerdekammer unter Art. 112 EPÜ rechtfertigen würden. Der Antrag wurde daher als verspätet zurückgewiesen.
In Bezug auf die Zulässigkeit von Überprüfungsanträgen gegen Zwischenentscheidungen befand die Große Beschwerdekammer, dass im Hinblick auf R 5/23 und R 2/15 eine uneinheitliche Rechtsprechung vorliegt. Allerdings habe die Große Beschwerdekammer in einem Verfahren nach Art. 112a EPÜ keine Möglichkeit, eine entsprechende Rechtsfrage zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung nach Art. 112 EPÜ der Großen Beschwerdekammer vorzulegen.
Zum Begriff der "Entscheidung" in Art. 112a EPÜ erklärte die Große Beschwerdekammer, dass sich unterschiedliche Verfahrenshandlungen des EPA durchaus bezüglich ihrer Anfechtbarkeit unterscheiden können, auch wenn sie in gleicher Weise als "Entscheidungen" bezeichnet werden. Sie teilte die in den Entscheidungen R 2/15 und R 5/23 vertretene Auffassung, dass die Bestimmungen von Art. 106 (2) EPÜ im Rahmen des Überprüfungsverfahrens nicht anwendbar sind. Die grundsätzlichen Überlegungen hinter Art. 106 EPÜ, die einer selbständigen Beschwerde gegen Zwischenentscheidungen entgegenstehen (z. B. Vermeidung von Verfahrensverzögerungen), seien dagegen durchaus auf das Überprüfungsverfahren unter Art. 112a EPÜ anwendbar. Diese Überlegungen sprechen gegen eine Möglichkeit der Überprüfung von Zwischenentscheidungen unter Art. 112a EPÜ..
Der Großen Beschwerdekammer zufolge sind auch der Sinn und Zweck des Überprüfungsverfahrens, insbesondere die Ausgestaltung als außerordentlicher Rechtsbehelf, Aspekte, die nicht für eine Gleichsetzung von Überprüfungsanträgen mit Beschwerden im Hinblick auf die Anfechtungsmöglichkeiten oder gar für eine großzügigere Praxis sprechen, sondern eher für eine strengere Beurteilung der Zulässigkeit bei Überprüfungsanträgen. Darüber hinaus impliziert der Wortlaut von Art. 112a (5) EPÜ, der auf die Wiederaufnahme des Verfahrens "vor den Beschwerdekammern" Bezug nimmt, dass vor den Beschwerdekammern eben kein Verfahren mehr anhängig ist. Diese Regelung stützt jedenfalls nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer die Auslegung, nach der Zwischenentscheidungen nicht selbständig bzw. gesondert unter Art. 112a EPÜ überprüft werden können.
Der Antrag auf Überprüfung wurde folglich als unzulässig verworfen.