4.4. Artikel 112a (2) d) EPÜ – sonstiger schwerwiegender Verfahrensmangel
4.4.3 Erfolgreicher Antrag nach Regel 104 b) EPÜ
In R 21/11 brachte der Antragsteller (Patentinhaber) vor, dass die Beschwerdekammer über die Beschwerde entschieden habe, ohne über einen Antrag, nämlich die Zulassung eines per Fax eingereichten zweiten Gutachtens, zu entscheiden. Die Große Beschwerdekammer stellte fest, dass R. 104 b) EPÜ eine besondere Ausprägung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist und dass dieser Anspruch unabhängig davon besteht, ob die Partei etwas vorzutragen gehabt hätte, das die Beschwerdekammer überzeugt hätte. Das Argument – nämlich dass der nicht entschiedene Antrag nicht relevant war, weil seine Zulassung keinen Unterschied gemacht hätte – könnte nur Erfolg haben, wenn gezeigt werden könnte, dass alles, was durch die fehlende Zulassung "verlorenging", dennoch in der zu prüfenden Entscheidung berücksichtigt wurde. Nach Ansicht der Großen Beschwerdekammer stellte der Verfahrensmangel eine Verletzung des rechtlichen Gehörs sowohl nach Art. 112a (2) d) EPÜ in Verbindung mit R. 104 EPÜ als auch nach Art. 112a (2) c) EPÜ in Verbindung mit Art. 113 (1) EPÜ dar. Der Antragsteller hatte argumentiert, diese Verletzung sei durch die Nichtberücksichtigung des zweiten Gutachtens entstanden. Die Große Beschwerdekammer führte sie hingegen darauf zurück, dass die Beschwerdekammer den Antrag auf Zulassung des Gutachtens nicht berücksichtigt hatte. Wäre dem Antrag stattgegeben worden, hätte er das Ergebnis des Verfahrens beeinflussen können. Es bestand daher ein kausaler Zusammenhang zwischen dieser verweigerten Gelegenheit zur Stellungnahme und der Entscheidung der Beschwerdekammer (s. dieses Kapitel V.B.4.3.2). Die angefochtene Entscheidung wurde deshalb aufgehoben.
In R 3/22 hatte der Anmelder eine Berichtigung einer Zurücknahme der Beschwerde nach R. 139 EPÜ beantragt. Der Geschäftsstellenbeamte informierte den Beschwerdeführer in einer Mitteilung darüber, dass das Beschwerdeverfahren vor der Kammer aufgrund der Zurücknahme der Beschwerde durch den Beschwerdeführer beendet und die Kammer nicht mehr für den Fall zuständig sei. Die Große Beschwerdekammer legte die Mitteilung des Geschäftsstellenbeamten als eine Entscheidung aus, in der die Kammer implizit über die Beschwerde, nicht aber über den Berichtigungsantrag entschied (s. dieses Kapitel V.B.3.4.2 und Kapitel III.K.3.1.). Der Berichtigungsantrag, d. h. der nach der Beschwerderücknahme eingereichte Widerruf der Zurücknahme, war ein relevanter Antrag im Sinne von R. 104 b) EPÜ für die Zwecke von Art. 112a (2) d) EPÜ. Nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern zu R. 139 EPÜ (s. Kapitel V.A.7.3.7) kann der Erfolg eines solchen Antrags nicht von vornherein ausgeschlossen werden, und wenn der Antrag erfolgreich ist, wäre eine Entscheidung über die Begründetheit der Beschwerde möglich. Aus diesem Grund befand die Große Beschwerdekammer, dass die Weigerung der Kammer, über den Berichtigungsantrag nach R. 139 EPÜ zu entscheiden, einen wesentlichen Verfahrensfehler im Sinne von Art. 112a (2) d) EPÜ darstellte und der Antrag begründet war.