3.4. Artikel 112a (1) EPÜ – durch die Entscheidung einer Kammer beschwerter Beteiligter kann einen Antrag auf Überprüfung stellen
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3.4. Artikel 112a (1) EPÜ – durch die Entscheidung einer Kammer beschwerter Beteiligter kann einen Antrag auf Überprüfung stellen
Nach Art. 112a (1) EPÜ kann jeder Beteiligte, der durch die Entscheidung einer Kammer beschwert ist, einen Antrag auf Überprüfung dieser Entscheidung stellen.
- R 0016/22
Der Überprüfungsantrag in R 16/22 war gegen die Entscheidung T 2175/15 vom 1. April 2022 gerichtet, mit der die Beschwerdekammer (in der Besetzung nach Art. 24 (4) EPÜ) den Antrag auf Vorlage von Fragen an die Große Beschwerdekammer abgelehnt, und den Ablehnungsantrag betreffend die Mitglieder der Kammer in ihrer ursprünglichen Besetzung vom 24. Dezember 2021 als unbegründet zurückgewiesen hatte.
Zwei Wochen vor der mündlichen Verhandlung erklärte die Antragstellerin in einem Schreiben, dass sie nach nochmaliger Überprüfung der Rechtslage der Auffassung sei, dass die Große Beschwerdekammer im Verfahren nach Art. 112a EPÜ die Möglichkeit habe, "zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung den vorliegenden Fall an die Große Beschwerdekammer gemäß Art. 112 EPÜ vorzulegen". Zu Beginn der mündlichen Verhandlung stellte die Antragstellerin auch den formellen Antrag, der Großen Beschwerdekammer in der Besetzung gemäß Art. 112 EPÜ die Rechtsfrage vorzulegen, ob der Anwendungsbereich von Art. 112a EPÜ auf solche rechtskräftigen Entscheidungen einer Beschwerdekammer beschränkt ist, die ein Beschwerdeverfahren abschließen, oder ob dieser Anwendungsbereich sämtliche rechtskräftigen Entscheidungen einer Beschwerdekammer umfasst..
Im Zusammenhang mit diesem Antrag merkte die Große Beschwerdekammer an, dass gegen die Möglichkeit einer solchen Vorlage allerdings bereits der Wortlaut des EPÜ, der nicht nur in Art. 112 EPÜ klar zwischen "Beschwerdekammer" und "Große Beschwerdekammer" unterscheidet, spricht. Sie fügte hinzu, dass die Große Beschwerdekammer entsprechend in Verfahren gemäß Art. 112a EPÜ auch schon entschieden hat, dass sie der Großen Beschwerdekammer keine Rechtsfragen in einem Verfahren nach Art. 112 EPÜ vorlegen kann (R 7/08, bestätigt z. B. in R 8/12). Was das diesbezügliche Vorbringen der Antragstellerin angeht, konnte die Große Beschwerdekammer keine besonderen Gründe im Sinne von Art. 12 VOGBK erkennen, welche eine Berücksichtigung des verspätet vorgebrachten Antrags auf Vorlage an die Große Beschwerdekammer unter Art. 112 EPÜ rechtfertigen würden. Der Antrag wurde daher als verspätet zurückgewiesen.
In Bezug auf die Zulässigkeit von Überprüfungsanträgen gegen Zwischenentscheidungen befand die Große Beschwerdekammer, dass im Hinblick auf R 5/23 und R 2/15 eine uneinheitliche Rechtsprechung vorliegt. Allerdings habe die Große Beschwerdekammer in einem Verfahren nach Art. 112a EPÜ keine Möglichkeit, eine entsprechende Rechtsfrage zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung nach Art. 112 EPÜ der Großen Beschwerdekammer vorzulegen.
Zum Begriff der "Entscheidung" in Art. 112a EPÜ erklärte die Große Beschwerdekammer, dass sich unterschiedliche Verfahrenshandlungen des EPA durchaus bezüglich ihrer Anfechtbarkeit unterscheiden können, auch wenn sie in gleicher Weise als "Entscheidungen" bezeichnet werden. Sie teilte die in den Entscheidungen R 2/15 und R 5/23 vertretene Auffassung, dass die Bestimmungen von Art. 106 (2) EPÜ im Rahmen des Überprüfungsverfahrens nicht anwendbar sind. Die grundsätzlichen Überlegungen hinter Art. 106 EPÜ, die einer selbständigen Beschwerde gegen Zwischenentscheidungen entgegenstehen (z. B. Vermeidung von Verfahrensverzögerungen), seien dagegen durchaus auf das Überprüfungsverfahren unter Art. 112a EPÜ anwendbar. Diese Überlegungen sprechen gegen eine Möglichkeit der Überprüfung von Zwischenentscheidungen unter Art. 112a EPÜ..
Der Großen Beschwerdekammer zufolge sind auch der Sinn und Zweck des Überprüfungsverfahrens, insbesondere die Ausgestaltung als außerordentlicher Rechtsbehelf, Aspekte, die nicht für eine Gleichsetzung von Überprüfungsanträgen mit Beschwerden im Hinblick auf die Anfechtungsmöglichkeiten oder gar für eine großzügigere Praxis sprechen, sondern eher für eine strengere Beurteilung der Zulässigkeit bei Überprüfungsanträgen. Darüber hinaus impliziert der Wortlaut von Art. 112a (5) EPÜ, der auf die Wiederaufnahme des Verfahrens "vor den Beschwerdekammern" Bezug nimmt, dass vor den Beschwerdekammern eben kein Verfahren mehr anhängig ist. Diese Regelung stützt jedenfalls nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer die Auslegung, nach der Zwischenentscheidungen nicht selbständig bzw. gesondert unter Art. 112a EPÜ überprüft werden können.
Der Antrag auf Überprüfung wurde folglich als unzulässig verworfen.
- R 0019/23
In R 19/23 beantragte der Antragsteller unter anderem wörtlich, die zu überprüfende Entscheidung der Beschwerdekammer in Disziplinarangelegenheiten aufzuheben und die Wiedereröffnung des Verfahrens vor der zuständigen Beschwerdekammer anzuordnen.
Die Große Beschwerdekammer (nachfolgend "GBK") erklärte, dass sie die Auffassung des Antragstellers, wonach die GBK gemäß Art. 112a EPÜ für die Überprüfung von Entscheidungen der Beschwerdekammer in Disziplinarangelegenheiten (nachfolgend "BKD") zuständig sei, nicht teilt. Vielmehr folgte sie der in der Entscheidung D 3/20 zum Ausdruck gebrachten Auffassung, dass ein Beschwerdeführer, der sich gegen eine Entscheidung des Sekretariats oder der Prüfungskommission wendet, keine Möglichkeit hat, eine "Große Beschwerdekammer in Disziplinarangelegenheiten" anzurufen und der dahingehende Antrag des Beschwerdeführers daher als unzulässig zu verwerfen ist.
Der GBK zufolge teilte sich das Vorbringen des Antragstellers in der schriftlichen Antwort in Vorbereitung auf die mündliche Verhandlung und während der mündlichen Verhandlung in zwei Argumentationslinien.
- Vom Verwaltungsrat gesetztes "Sekundärrecht" könne das von den Vertragsstaaten des EPÜ erlassene Primärrecht nicht "verdrängen, aufheben oder umgehen".
- Die Anwendbarkeit von Art. 112a EPÜ auf Entscheidungen der BKD sei auch im Hinblick auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (nachfolgend "EGMR") zu Art. 6 (1) der Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (nachfolgend "EMRK") geboten.
Die GBK merkte an, dass die Nennung der Beschwerdekammern ohne Beschränkung auf ganz bestimmte, im EPÜ vorgesehene Beschwerdekammern in Art. 112a EPÜ und ohne ausdrücklichen Ausschluss der BKD nicht als Hinweis auf eine Geltung dieser Vorschrift für alle Kammern, einschließlich der BKD, angesehen werden könne. Die GBK erinnerte ferner daran, dass der Gesetzgeber des EPÜ 2000 die BKD nicht in den mit "Beschwerdekammern" überschriebenen Art. 21 EPÜ aufgenommen hat. Zur Zuständigkeit der GBK verweise Art. 22 (1) a) im Hinblick auf Art. 112 und Art. 22 (1) c) bezüglich Art. 112a EPÜ aber auf die "Beschwerdekammern" und damit auf die in Art. 21 genannten Kammern und folglich nicht auf die BKD..
In Bezug auf die erste Argumentationslinie des Antragstellers kam die GBK zu dem Schluss, dass die Prüfungsvorschriften (d.h. Vorschriften über die europäische Eignungsprüfung für zugelassene Vertreter, Ausführungsbestimmungen hierzu, Ergänzende Verfahrensordnung der Beschwerdekammer in Disziplinarangelegenheiten und Teil IV der Vorschriften in Disziplinarangelegenheiten von zugelassenen Vertretern) als autonomes Recht kein Sekundärrecht im Verhältnis zum EPÜ als Primärrecht in dem Sinne darstellen, dass sie dazu dienen würden, die Ziele des EPÜ unmittelbar zu verwirklichen. Damit verbleibe es bei der mangelnden Anwendbarkeit von Art. 112a (und 112) EPÜ auf – und damit der mangelnden Zuständigkeit der GBK für – Verfahren vor der BKD.
Betreffend die zweite Argumentationslinie des Antragstellers befand die GBK, dass die BKD zwar Art. 113 (1) EPÜ anwenden muss, deren zutreffende Anwendung aber nicht der Überprüfung durch die GBK nach Art. 112a EPÜ unterliegt. Nach der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 (1) EMRK müsse in Streitigkeiten betreffend zivilrechtliche Rechte und Pflichten eine einzige gerichtliche Instanz vorgesehen werden. Diese sei mit der BKD gegeben. Mit der Schaffung von Art. 112a EPÜ sei der Gesetzgeber also über das von Art. 6 (1) EMRK geforderte Maß sogar hinausgegangen, sodass die Nichtanwendung von Art. 112a EPÜ bezüglich Art. 113 (1) EPÜ keinen rechtlichen Bedenken begegne (s. R 10/20).
Im Gesamtergebnis verwarf die GBK den auf Art. 112a (2) c) EPÜ wegen Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör gestützten Überprüfungsantrag als offensichtlich unzulässig.