1.3. Beschwerdekammern als rechtsprechende Organe
1.3.5 Kein Gericht eines EU-Mitgliedstaats
In der Sache T 276/99 hielt die Kammer fest, dass Vorlagen an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH; seit 1. Dezember 2009 Gerichtshof der Europäischen Union, ebenfalls EuGH) den Voraussetzungen des Art. 234 EG‑Vertrag (seit 1. Dezember 2009 Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, AEUV) unterliegen. Die Kammer führte aus, dass die Beschwerdekammern des EPA kein Gericht eines EU-Mitgliedstaats und daher prima facie nicht befugt sind, eine Frage dem EuGH vorzulegen.
In G 2/06 (ABl. 2009, 306) hatte der Beschwerdeführer die Anrufung des EuGH mit dem Argument beantragt, dass R. 28 c) EPÜ den Wortlaut von Art. 6 (2) c) der Richtlinie 98/44/EG (Biotechnologierichtlinie) enthalte, die Große Beschwerdekammer daher bei der Auslegung der R. 28 c) EPÜ das Recht der EU auslege und als Gericht eines Vertragsstaats zur Anrufung des EuGH verpflichtet sei. Der Antrag wurde als unzulässig zurückgewiesen. Die Große Beschwerdekammer stellte klar, dass weder im EPÜ noch in seiner Ausführungsordnung vorgesehen ist, dass eine Instanz des EPA dem EuGH Rechtsfragen vorlegt. Die Beschwerdekammern gehen auf das EPÜ zurück, und ihre Befugnisse beschränken sich auf die im EPÜ vorgesehenen. Ebenso wenig schien der Großen Beschwerdekammer Art. 234 EG‑Vertrag (seit 1. Dezember 2009 Art. 267 AEUV), wonach der EuGH im Wege der Vorabentscheidung über die Auslegung der Handlungen der Organe der Gemeinschaft – wie z. B. der Richtlinie – entscheidet, eine Grundlage dafür zu bieten, dass eine Beschwerdekammer des EPA den EuGH um eine Entscheidung in einer ihr vorliegenden Frage ersucht. Art. 234 EG‑Vertrag (seit 1. Dezember 2009 Art. 267 AEUV) lege fest, dass die Frage in einem schwebenden Verfahren bei einem Gericht eines EU-Mitgliedstaats gestellt werden muss. Die Große Beschwerdekammer wies darauf hin, dass die Beschwerdekammern des EPA zwar als Gerichte anerkannt wurden, aber nicht Gerichte eines EU-Mitgliedstaats sind, sondern einer internationalen Organisation, deren Vertragsstaaten gar nicht alle der EU angehören. Der Sitz der Beschwerdekammern des EPA, der sich in einem EU-Mitgliedstaat, nämlich Deutschland, befindet, ändert nichts an ihrem Status als Teil einer internationalen Organisation mit den im EPÜ verankerten Zuständigkeiten. Die Beschwerdekammern werden nicht und wurden noch nie als Gerichte ihres Sitzstaats behandelt.
In R 1/10 legte die Große Beschwerdekammer dar, dass eine Entscheidung des EuGH, die die Unabhängigkeit der Beschwerdekammern im Sinne einer rechtsstaatlichen Gerichtsbarkeit verneinen würde, keine Bindungswirkung für die Beschwerdekammern entfalten würde. Denn das EPÜ ist nicht Bestandteil der EU-Gesetzgebung, sondern begründet mit der EPO ein seinem Wesen nach von der EU unabhängiges, eigenständiges völkerrechtliches Subjekt, dem zwar alle EU-Mitgliedstaaten, jedoch auch Nicht-EU-Staaten angehören.