1.6. Bedeutung des nationalen Rechts und nationaler Rechtsprechung für die Beschwerdekammern
1.6.1 Grundsätzlich keine Bindungswirkung – Streben nach Harmonisierung
Die Verfahren vor den Beschwerdekammern sind eigenständig, und die Entscheidungen der nationalen Gerichte haben keine rechtliche Bindungswirkung. Allerdings schließt dies – insbesondere im Bemühen um die Entwicklung einer harmonisierten europäischen Rechtsprechung – eine gewisse Interaktion zwischen den nationalen Rechtssystemen und dem europäischen System nicht aus (s. R 21/09 , Nr. 2.4 der Gründe; sehr ausführlich in dieser Frage, sowie z. B. zum Verhältnis zwischen nationaler Rechtsprechung und Entscheidung der Beschwerdekammern T 1904/12, T 885/02, T 202/13, T 231/13, T 488/16, T 926/20).
In T 2220/14 wurde an das Verhältnis zwischen nationalen Entscheidungen und den Verfahren vor den Beschwerdekammern erinnert. In Letzteren darf über Fragen der Patentierbarkeit allein auf der Grundlage des EPÜ entschieden werden. Was Entscheidungen zur Patentierbarkeit in EPÜ-Vertragsstaaten betrifft, so dürfen diese nicht als für die Beschwerdekammern verbindlich zitiert werden, und Patentansprüche dürfen nicht mit der Begründung zurückgewiesen werden, dass ihre Patentfähigkeit nach dem Recht eines Mitgliedstaats keinen Bestand hat (T 452/91). Solche Überlegungen gelten auch für Entscheidungen von Gerichten aus Nichtmitgliedstaaten wie etwa den USA (Nr. 16 der Gründe).
In G 1/83 (ABl. 1985, 60) betonte die Große Beschwerdekammer, dass bei der Auslegung internationaler Verträge, durch die Rechte und Pflichten natürlicher oder juristischer Personen begründet werden, auch die Frage der Harmonisierung nationaler und internationaler Vorschriften in Betracht gezogen werden muss. Dieser Auslegungsgesichtspunkt ist dann von besonderer Bedeutung, wenn Bestimmungen eines internationalen Vertrags, wie es im europäischen Patentrecht der Fall ist, in nationale Gesetzgebungen übernommen wurden. Zur Schaffung eines harmonisierten Patentrechts in den Vertragsstaaten ist eine harmonisierte Auslegung notwendig. Deshalb muss auch das EPA, insbesondere seine Beschwerdeinstanz, die Rechtsprechung und die Rechtsauffassungen der Gerichte und Patentämter in den Vertragsstaaten in Betracht ziehen (Nr. 6 der Gründe).
Für gewisse (meist verfahrensrechtliche) Teilfragen ist aber das nationale Recht heranzuziehen. So legte die Große Beschwerdekammer in G 1/13 (ABl. 2015, A42) dar, dass juristische Personen, wie z. B Unternehmen, nur aufgrund des nationalen Rechtssystems existieren, das ihre Gründung, anschließende Existenz und ihre Beendigung regelt. Bei der Beurteilung, ob eine juristische Person existiert oder aufgehört hat zu existieren und ob sie handlungsfähig ist, sollte der im EPÜ eindeutig anerkannte Grundsatz sein, dass nationales Recht zugrunde zu legen ist (Nrn. 5.1 und 6 der Gründe). Einschränkend führte die Große Beschwerdekammer aus, dass der Befolgung nationalen Rechts durch das EPA Grenzen gesetzt sind. So könnte das EPA z. B. keine Vorschrift des nationalen Rechts anerkennen, die einem Unternehmen Verfahrensrechte verleiht, die dem EPÜ zuwiderlaufen.
Laut J 14/19 ist die Frage des Zeitpunkts der Rechtshängigkeit im Zusammenhang mit R. 14 EPÜ nach dem (nationalen) Verfahrensrecht des betreffenden Staates zu beurteilen. Bei der Anwendung fremden Rechts (hier deutsches Recht) muss, so die Juristische Beschwerdekammer, das EPA dieses, soweit möglich, im Gesamtzusammenhang der fremden Rechtsordnung anwenden. Dabei ist das EPA als von staatlichen Behörden und Gerichten unabhängige internationale Organisation nicht an die Rechtsprechung nationaler Gerichte zur Auslegung der anzuwendenden fremden Rechtsnorm gebunden. Sofern dem EPA bekannt, sollte jedoch insbesondere höchstgerichtliche nationale Rechtsprechung bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt und gewürdigt werden. Gesetzeskommentare sind keine amtlichen Veröffentlichungen und gehören weder zum durch Rechtsetzung entstandenen Recht noch zur Rechtsprechung. Für sich genommen sind sie bei der Anwendung fremden Rechts durch das EPA daher nicht zu berücksichtigen.
Zur Bindungswirkung nationaler Entscheidungen siehe auch Kapitel III.H.8.2. "Nationale Entscheidungen: keine Bindungswirkung für die Beschwerdekammern".