6.3.1 Auswahl eines Teilbereichs
Im Hinblick auf diese ursprünglich formulierte dritte Voraussetzung (willkürliche oder gezielte Auswahl) vertrat die Kammer in T 198/84 die Ansicht, dass diese Betrachtungsweise der Neuheit tatsächlich mehr als nur eine formale Abgrenzung vom Stand der Technik zur Folge habe. Eine Abgrenzung lediglich nach dem Wortlaut, nicht aber nach dem Inhalt der Erfindungsdefinition bestehe dann, wenn eine Auswahl willkürlich wäre, d. h., wenn der Auswahlbereich nur über die gleichen Eigenschaften und Fähigkeiten verfügte wie der Gesamtbereich, sodass das Ausgewählte nur ein willkürlicher Ausschnitt aus dem Vorbekannten wäre. Dieser Fall liege nicht vor, wenn der Effekt der Auswahl, z. B. die wesentliche Ausbeuteverbesserung, glaubhaft nur innerhalb des Auswahlbereichs, nicht aber über den bekannten Gesamtbereich eintrete (gezielte Auswahl). Um Missverständnisse auszuschließen, fügte die Kammer im Anschluss an T 12/81 (ABl. 1982, 296) hinzu, dass der aus einem größeren Bereich herausgegriffene Teilbereich seine Neuheit nicht durch einen dort auftretenden, neu entdeckten Effekt erlange, sondern per se neu sein müsse. Ein solcher Effekt sei also kein Neuheitserfordernis; gleichwohl gestatte er im Hinblick auf die technische Andersartigkeit den Rückschluss, dass kein willkürlich gewählter Ausschnitt aus dem Vorbekannten, d. h. keine bloße Ausführungsform der Vorbeschreibung, sondern eine andere Erfindung vorliege (gezielte Auswahl).
In T 17/85 (ABl. 1986, 406) wurde die Neuheit des beanspruchten Bereichs verneint, weil der bevorzugte Zahlenbereich einer Entgegenhaltung den beanspruchten Bereich teilweise vorwegnahm. Ein Bereich sei jedenfalls dann nicht mehr neu, wenn die Werte in den Ausführungsbeispielen der Entgegenhaltung nur knapp außerhalb des beanspruchten Bereichs lägen und der Fachperson die Lehre vermittelten, dass er innerhalb des gesamten beanspruchten Bereichs arbeiten könne.
In T 247/91 betonte die Kammer, dass bei der Entscheidung über die Neuheit einer Erfindung nicht nur die Beispiele heranzuziehen seien, sondern auch geprüft werden müsse, ob die Offenbarung eines zum Stand der Technik gehörenden Dokuments als Ganzes geeignet sei, der Fachperson den Gegenstand des Schutzbegehrens in Form einer technischen Lehre kundzutun. Ein fachkundiger Leser der Entgegenhaltung hätte aber keine Veranlassung gesehen, den im Streitpatent beanspruchten Bereich von 85°C bis 115°C bei der Ausführung der in der Entgegenhaltung offenbarten Erfindung auszuklammern. Die Lehre der Entgegenhaltung sei eindeutig nicht auf die in den Beispielen angeführten Temperaturen beschränkt, sondern erstrecke sich auf den gesamten beschriebenen Temperaturbereich von 80°C bis 170°C, der als technische Lehre vermittelt worden sei und mithin den Gegenstand des Streitpatents bereits vorweggenommen habe.
In T 610/96 beanspruchte der Patentinhaber ein magnetresistives Material, das dünne magnetische und nichtmagnetische Filmschichten umfasste. Die Kammer sah die beanspruchten Bereiche, die die Zusammensetzung dieser Schichten definierten, als enge Auswahl aus der allgemeinen Offenbarung der Vorveröffentlichung D10 an, die sich mit den dort bevorzugten Unterbereichen nicht überschneide und eine spezielle nichtmagnetische Schicht aus einer Gruppe möglicher Schichten gezielt auswähle. Diese Auswahl habe auch genügend Abstand von den konkreten Ausführungsbeispielen nach D10. Außerdem weise das beanspruchte Material andere Eigenschaften der magnetischen Widerstandsänderung auf, sodass der spezielle Unterbereich nicht bloß einen willkürlichen Teil aus der allgemeinen Offenbarung der Entgegenhaltung D10 darstelle, sondern anders geartet und damit neu sei. Die in der Entscheidung T 279/89 aufgestellten Kriterien für die Neuheit von Auswahlerfindungen seien damit erfüllt. Auch in T 100/12 waren alle drei Kriterien erfüllt.
Für eine Entscheidung, in der der betreffende Stand der Technik nach Art. 54 (3) EPÜ berücksichtigt wurde, siehe T 847/07. In diesem Fall wandte die Kammer bei ihrer Beurteilung der Neuheit das Erfordernis der "gezielten Auswahl" an.