8.1. Bestimmung der Fachperson
8.1.1 Definition
Nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern (s. z. B. T 1787/20) umfasst der Begriff der Fachperson eine erfahrene Person der Praxis, die über durchschnittliche Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt und die darüber unterrichtet ist, was zu einem bestimmten Zeitpunkt zum allgemein üblichen Wissensstand auf dem betreffenden Gebiet gehört (Durchschnittsfachperson). Es ist auch zu unterstellen, dass die Fachperson zu allem, was zum Stand der Technik gehört, insbesondere den im Recherchenbericht angegebenen Dokumenten, Zugang hatte und über die normalen Mittel und Fähigkeiten für routinemäßige Arbeiten und Versuche verfügte (EPÜ Richtlinien G‑VII, 3 – Stand April 2025). Er ist eine Fachperson auf einem technischen Gebiet (T 641/00, ABl. 2003, 352). In T 39/93 (ABl. 1997, 134) befand die Kammer, dass in allgemein anerkannten Definitionen des Begriffs der Fachperson dessen Eigenschaften zwar nicht immer mit denselben Formulierungen beschrieben werden, sie aber eines gemeinsam haben: Keine deutet an, dass die Fachperson über erfinderische Fähigkeiten verfügt. Das Vorhandensein genau solcher Fähigkeiten unterscheidet den Erfinder nämlich von einer sogenannten Fachperson.
In T 1462/14 verwies die Kammer darauf, dass die Fachperson eine fiktive Person ist, die in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern als objektive Referenz bei der Entscheidung verschiedener Fragen im Rahmen des EPÜ entwickelt worden ist. Diese fiktive Person kann keiner realen Person auf dem technischen Gebiet der Erfindung gleichgesetzt werden – keinem Erfinder, keinem Einsprechenden, keinem Prüfer und auch keinem Mitglied einer Beschwerdekammer. Dies gilt auch für den Vertreter.
Zur Definition der Fachperson fasste die Kammer in T 26/98 folgende Grundsätze zusammen, die die Beschwerdekammern im Allgemeinen anwenden: Gibt die Aufgabe der Fachperson den Hinweis, die Lösung auf einem anderen technischen Gebiet zu suchen, so ist die Fachperson dieses Gebiets die zur Aufgabenlösung berufene Fachperson (bestätig in T 1523/11, s. auch T 1787/20). Daher sind das Wissen und Können dieser Fachperson bei der Beurteilung, ob die Lösung auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht, zugrunde zu legen (s. dazu T 32/81, ABl. 1982, 225; T 141/87; T 604/89 vom 15. November 1990 date: 1990-11-15; T 321/92; s. auch Kapitel I.D.8.3). Von der Fachperson kann auch erwartet werden, dass sie sich auf Nachbargebieten nach Anregungen umsieht, wenn sich dort die gleichen oder ähnliche Probleme stellen (s. Kapitel I.D.8.2). Von der Fachperson kann erwartet werden, dass sie sich auf einem allgemeinen technischen Gebiet nach Anregungen umsieht, wenn ihr solche Gebiete geläufig sind. Bei technisch anspruchsvollen Gebieten kann als zuständige "Fachperson" auch eine Gruppe von Fachleuten auf den einschlägigen Fachgebieten gelten (s. Kapitel I.D.8.1.3). Lösungen allgemeiner technischer Aufgaben auf nichtspezifischen (allgemeinen) Gebieten sind als Teil des technischen Allgemeinwissens anzusehen (s. Kapitel I.D.8.2 and I.D.8.3).
Es ist ferner ständige Rechtsprechung, dass es zu den üblichen Aufgaben der auf einem bestimmten Gebiet tätigen Fachperson gehört, nicht untätig zu bleiben, sondern nach Alternativen zu suchen, sich ständig zu bemühen, Mängel zu beseitigen, Nachteile zu überwinden und Verbesserungen bekannter Vorrichtungen oder Erzeugnisse zu erzielen (T 867/11; siehe auch u. a. T 455/91, ABl. EPA 1995, 684; T 1102/00, T 247/11).
In T 1030/06 betraf die Anmeldung ein System und Verfahren zum sicheren Zwischenspeichern von Inhalten. Der Kammer zufolge handelt es sich bei der Fachperson um eine Durchschnittsfachperson, der also nicht nur Zugang zum Stand der Technik und zum allgemein üblichen Wissensstand auf dem betreffenden Gebiet hat, sondern auch über die Fähigkeit zu routinemäßigen Arbeiten und Versuchen verfügt. Somit konnte von der Fachperson erwartet werden, dass sie nach Lösungen sucht und Entscheidungen trifft, um anstehende Konstruktionsaufgaben zu lösen.
In T 1761/12 befand die Kammer die Sichtweise für zu formell, dass der in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern entwickelte Aufgabe-Lösungs-Ansatz die Fragestellung nicht vorsehe, ob es notwendig ist, Merkmale beizubehalten, die sich nicht vom nächstliegenden Stand der Technik unterscheiden. Über den der Fachperson allgemein zugeschriebenen bloßen Mangel an Fantasie hinaus scheine diese Haltung ihr auch die Fähigkeit abzusprechen, Schlussfolgerungen aus einer Information zu ziehen, die sich direkt aus dem Stand der Technik ergibt.
Nach T 422/93 (ABl. 1997, 25) ist bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nach dem Aufgabe-Lösungs-Ansatz für die Bestimmung der maßgebenden Fachperson – unabhängig davon, ob in dem betreffenden Patent eine andere Definition der Fachperson gegeben wird – auf die technische Aufgabe abzustellen, die ausgehend von der Offenbarung im nächstliegenden Stand der Technik gelöst werden soll. Da die technische Aufgabe einer Erfindung so zu formulieren ist, dass sie keine Lösungsansätze enthält, kann – wenn die Formulierung der Aufgabe und der Lösungsvorschlag unterschiedlichen technischen Gebieten zuzuordnen sind – als Fachperson nicht der Experte desjenigen technischen Gebiets berufen sein, auf dem die vorgeschlagene Lösung angesiedelt ist. Auch umfasst das allgemeine Fachwissen der maßgebenden Fachperson keine Spezialkenntnisse auf dem anderen technischen Gebiet, auf dem die vorgeschlagene Lösung angesiedelt ist, wenn der nächstliegende Stand der Technik keinerlei Hinweis darauf enthält, dass die Lösung dort zu suchen ist.
In T 25/13 stellte die Kammer fest, dass der Einsprechende zwar den Ausgangspunkt (hier D4) grundsätzlich frei wählen kann, doch hat diese Wahl in der Folge Implikationen hinsichtlich des zu berücksichtigenden Fachwissens. Die Kammer kam zu dem Schluss, dass man als Fachperson entweder den Experten auf dem technischen Gebiet der Erfindung (Kraftfahrzeugtechnologie) wählen kann, der das aus einem ganz anderen Fachgebiet (Wäschetrockner) stammende Dokument D4 nicht herangezogen hätte, oder aber D4 als Ausgangspunkt wählen kann, was tatsächlich impliziert, dass die in Betracht zu ziehende Fachperson der Experte auf dem Gebiet der Haushaltsgeräte ist, für den die Lösung nicht naheliegend war.
In T 1924/20 hob die Kammer hervor, dass die Beschreibung und die Zeichnungen vom Entscheidungsorgan typischerweise herangezogen werden, um den "fachmännischen Leser" und damit den Standpunkt zu bestimmen, von dem aus die Ansprüche auszulegen sind. Siehe auch II.A.6. "Auslegung der Patentansprüche".