2.7. Rechtsprechung vor G 1/22 und G 2/22
2.7.1 Anwendung des "Alle Anmelder"-Ansatzes durch die Kammern vor G 1/22 und G 2/22
In T 844/18 war hauptsächlich folgende Frage zu beantworten: "A und B sind Anmelder der Prioritätsanmeldung. A ist alleiniger Anmelder der Nachanmeldung. Ist ein Prioritätsanspruch wirksam, auch ohne dass das Prioritätsrecht von B auf A übertragen wurde?" Einer von mehreren Anmeldern bestimmter vorläufiger US-Anmeldungen, deren Priorität beansprucht wurde, gehörte nicht zu den Anmeldern der dem Streitpatent zugrunde liegenden Anmeldung. Die Beschwerdeführer (Patentinhaber) hinterfragten den seit Langem gefestigten "alle Anmelder"-Ansatz (oder "dieselben Anmelder"-Ansatz), den die Einspruchsabteilung im Einklang mit der Rechtsprechung der Kammern angewandt hatte.
Die Kammer sah die gewöhnliche Bedeutung des Begriffs "jedermann" in Art. 87 (1) EPÜ in allen Sprachfassungen als mehrdeutig an (vgl. Art. 4A (1) PVÜ, Art. 31 (1) Wiener Übereinkommen). In Übereinstimmung mit T 15/01 (ABl. 2006, 153) befand sie, dass es Ziel und Zweck der PVÜ (vgl. Art. 31 (1) und Art. 33 (4) Wiener Übereinkommen) ist, "für begrenzte Zeit die Interessen eines Patentanmelders, der internationalen Schutz für seine Erfindung erlangen will, zu wahren", und dass "die internationalen Prioritätsvorschriften der PVÜ … dem Anmelder die Erlangung internationalen Schutzes für seine Erfindung … erleichtern". Die Kammer widersprach der von den Beschwerdeführern vertretenen Auslegung des Begriffs "jedermann", wonach es A erlaubt wäre, alleine eine weitere Anmeldung in einem anderen Land einzureichen und dieselbe Erfindung zu beanspruchen, ohne B zu involvieren, und erklärte, dass es nicht Ziel und Zweck der PVÜ sein kann, eine oder mehrere Personen zum Nachteil aller anderen Personen zu begünstigen, die ursprünglich zu der Gruppe gehörten, die eine Patentanmeldung eingereicht hatte. Zudem sind die Prioritätsbestimmungen der PVÜ seit 1883 im Wesentlichen unverändert, und es gibt keine EPA- oder nationale Rechtsprechung, in der die Auslegung der Beschwerdeführer eindeutig angewandt wird. Für eine Änderung der ständigen Rechtsprechung und Praxis muss es eine sehr hohe Hürde geben, weil eine Änderung disruptive Auswirkungen haben könnte. Siehe auch T 788/05 in Kapitel II.D.5.2.
Siehe allerdings auch T 2360/19 in Kapitel II.D.2.6.1.