2.4. Zeugenaussagen und Sachverständigengutachten
2.4.4 Sachverständigengutachten eines Beteiligten
Nachdem sich der vorstehende Abschnitt mit von den Kammern angeordneten Sachverständigengutachten (Art. 117 (1) e) EPÜ) befasst hat, geht es in diesem Abschnitt um den in der Praxis häufigsten Fall, nämlich Gutachten von Sachverständigen der Beteiligten, die Letztere als Beweismittel vorlegen.
In G 1/22 (ABl. 2024, A50), Nr. 66 der Gründe erinnerte die Große Beschwerdekammer daran, dass die Beteiligten regelmäßig aufgefordert werden, Beweismittel (z. B. Rechtsgutachten eines unabhängigen Sachverständigen) über die Auswirkungen des anwendbaren nationalen Rechts einzureichen.
In T 517/14 (Prioritätsanspruch, israelisches Recht) erklärte die Kammer angesichts des vom Beschwerdeführer vorgelegten Sachverständigengutachtens, dass das Gutachten eines Sachverständigen, der einen Beteiligten "in zahlreichen Verfahren" vertreten hat, bei freier Beweiswürdigung zwar weniger gewichtig sein mag als das Urteil eines Gerichts, einer anderen unabhängigen Behörde nach nationalem Recht oder eines von der Kammer nach Art. 117 (1) e) EPÜ in Verbindung mit R. 117 Satz 1 EPÜ bestellten Sachverständigen, aber dennoch ein Beweismittel im Sinne des Art. 117 (1) EPÜ ist.
In T 1117/16 hatte der Beschwerdeführer zwei schriftliche Beweismittel vorgelegt, die er jeweils als "eidesstattliche Versicherung" bezeichnet hatte. Da die Aufzählung in Art. 117 (1) EPÜ nicht abschließend sei, konnte es nach Auffassung der Kammer dahingestellt bleiben, ob es sich bei den eingereichten schriftlichen Beweismitteln um eidesstattliche Versicherungen handelte. Die Frage, um welche Art von Erklärung es sich tatsächlich handelte, könne allenfalls für die Beweiskraft dieser Erklärungen von Belang sein. Allerdings wies die Kammer darauf hin, dass es sich bei der "Expert opinion" von Herrn D. nicht um ein Sachverständigengutachten i. S. v. Art. 117 (1) e) EPÜ handeln konnte, sondern vielmehr um ein sogenanntes Parteigutachten, das als eine einfache schriftliche Erklärung eines am Verfahren nicht beteiligten Dritten zu werten sei. Die vorliegenden Unterlagen könnten den behaupteten Verkauf bzw. die behauptete Lieferung des Gegenstands der Vorbenutzung oV3 prima facie nicht lückenlos belegen. Letztendlich wurde oV3 nicht in das Verfahren zugelassen (Art. 13 (1) VOBK).
Auch in den folgenden Fällen befassten sich die Kammern mit von Beteiligten vorgelegten Sachverständigengutachten: T 1676/08, T 658/04, T 885/02, T 276/07 (fehlende Übersetzung des italienischsprachigen Gutachtens), T 74/00 (Rechtsgutachten, japanisches Recht), R 18/09 (Rechtsgutachten zur Zulässigkeit des Antrags), T 156/15 (als Sachverständigenbeweis vorgelegtes Gutachten eines ehemaligen Beschwerdekammermitglieds), T 2132/16 (Gutachten verschiedener technischer Sachverständiger und Niederschrift ihres Kreuzverhörs in einem britischen Gerichtsverfahren).
In T 765/21 erklärte der Patentinhaber mit Eingabe kurz (zwei Wochen) vor der mündlichen Verhandlung, dass Herr X., Beschäftigter des Patentinhabers, an der mündlichen Verhandlung teilnehmen würde, und beantragte, ihn dabei als Sachverständiger mündliche Ausführungen machen zu lassen. Unter Berücksichtigung auch des fehlenden Antrags, Herrn X. gemäß Art. 117 (1) e) EPÜ und R. 118 EPÜ zu laden, befand die Kammer, dass Herr X. als Begleitperson im Sinne der Entscheidung G 4/95 anzusehen sei. Gemäß G 4/95 besteht kein Rechtsanspruch auf mündliche Ausführungen einer Person, die den zugelassenen Vertreter eines Beteiligten begleitet, außerhalb des Rahmens von Art. 117 EPÜ; diese unterliegen in jedem Fall dem Ermessen der Kammer. Ohne Angabe der Qualifikation der Begleitperson oder des Gegenstands der beabsichtigten mündlichen Ausführungen erfülle der Antrag nicht die Kriterien von G 4/95. Darüber hinaus stimmt der Einsprechende der Einlassung nicht zu.
Siehe auch T 335/15, wo der Einsprechende zwei Monate vor der mündlichen Verhandlung die Anhörung einer technischen Sachverständigen beantragt hatte, das Thema dieser Ausführungen aber erst in der Verhandlung nannte. Die Kammer lehnte den Antrag unter Berufung auf G 4/95 zu mündlichen Ausführungen durch eine Begleitperson ab. Allgemeiner wird diese Thematik in Kapitel III.V. "Vertretung" behandelt.