2.3. Anwendung der Auslegungsgrundsätze des Wiener Übereinkommens in Entscheidungen der Beschwerdekammer
2.3.1 Wörtliche Auslegung
Die Große Beschwerdekammer erklärte, dass sie bei der Auslegung von Vorschriften des EPÜ in der Regel mit dem Wortlaut der betreffenden Vorschrift beginnt; selbst wenn die Bedeutung aus diesem Wortlaut eindeutig hervorgeht, prüft die Kammer, ob das Ergebnis der wörtlichen Auslegung durch die Bedeutung der Wörter in ihrem Zusammenhang bestätigt wird (G 2/12 und G 2/13; G 1/21 vom 16. Juli 2021 date: 2021-07-16). Es ist durchaus möglich, dass der Wortlaut nur oberflächlich eine eindeutige Bedeutung hat. In jedem Falle darf eine wörtliche Auslegung nicht im Widerspruch zum Zweck der Vorschrift stehen (s. G 1/90, ABl. 1991, 275, 278, Nr. 4 der Gründe; G 6/91, ABl. 1992, 491, 499, Nr. 15 der Gründe; G 3/98, ABl. 2001, 62, 71 ff., Nr. 2.2 der Gründe). In G 2/12 konnte dem Wortlaut im Prinzip mehr als eine Bedeutung zugewiesen werden (vgl. G 1/88, ABl. 1989, 189, 193, Nr. 2.2 der Gründe). Daher musste die eigentliche und beabsichtigte Bedeutung des Begriffs "im Wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen" näher analysiert werden.
In G 1/18 verwies die Große Beschwerdekammer unter der Nr. IV. 1, in der es um die wörtliche Auslegung ging, auf die Grundsätze aus den verbundenen Verfahren G 2/12 und G 2/13 und traf eine wörtliche Auslegung von Art. 108 Satz 1 EPÜ gefolgt von einer engen wörtlichen Auslegung von Art. 108 Satz 2 EPÜ und einer breiten wörtlichen Auslegung derselben Bestimmung. Sie kam zu dem Schluss, dass bei einer wörtlichen Auslegung basierend auf der kombinierten Lesart von Art. 108 Sätze Art.108 Satz 1 EPÜ und Art.108 Satz 2 EPÜ (breite wörtliche Auslegung) eine Beschwerde nur dann wirksam eingelegt ist, wenn die Beschwerdegebühr innerhalb der vorgeschriebenen Frist von zwei Monaten entrichtet wird. Der Wortlaut der drei Sprachfassungen dieser Vorschrift sei nicht widersprüchlich. Diese wörtliche Auslegung des Art. 108 Sätze Art. 108 Satz 1 EPÜ und Art. 108 Satz 2 EPÜ führe zu einem Ergebnis, das dem Zweck der Bestimmung entspreche.
In T 844/18 stellte die Kammer fest, dass das EPÜ ein Sonderabkommen im Sinne von Art. 19 PVÜ ist und die Anwendung seiner Bestimmungen deshalb den in der PVÜ festgelegten Prioritätsgrundsätzen nicht entgegenstehen darf. Deshalb musste zur Auslegung des Begriffs "any person" in der englischen Fassung von Art. 87 (1) EPÜ der gleichlautende Rechtsbegriff in Art. 4A PVÜ ausgelegt werden, wobei die Auslegung in beiden Verträgen dieselbe sein musste. Die Kammer befand, dass die gewöhnliche Bedeutung des Begriffs "any person" in Art. 87 (1) EPÜ unklar sei. Der Ausdruck "celui qui" in der authentischen französischen Fassung von Art. 4A PVÜ sei möglicherweise weniger unklar und eher geeignet, den "Alle Anmelder"-Ansatz zu stützen. Der "Alle Anmelder"-Ansatz sei aus der Perspektive der gewöhnlichen Bedeutung sicherlich eine plausible und wohl die einzige von mehreren EPÜ-Mitgliedstaaten in den letzten hundert Jahren einheitlich angewandte Auslegung dieses Begriffs (s. Nrn. 36 ff. und 83 der Gründe). Die Kammer befasste sich deshalb mit Ziel und Zweck der PVÜ. S. auch Kapitel II.D.2.
In G 1/21 befand die Große Beschwerdekammer, dass der Wortlaut von Art. 116 EPÜ klar auf einen Bezug der Bestimmung auf mündliche Verhandlungen hinweise. Gemäß der Definition im Oxford English Dictionary bedeute "mündlich" ("oral") "durch gesprochenes Wort, durch Rede, im Gespräch kommuniziert, gesprochen, verbal" ("by the spoken word, by speech, by word of mouth"). Das Wort stütze daher nicht die Beschränkung seines Umfangs auf Präsenzverhandlungen in einem Gerichtssaal vor dem Spruchkörper.
In T 695/18 analysierte die Kammer zunächst den Wortlaut von R. 139 EPÜ und befand, dass, obgleich der Wortlaut des ersten Satzes den Eindruck erwecken könnte, dass R. 139 EPÜ nahezu unbeschränkt anwendbar ist ("beim Europäischen Patentamt eingereichten Unterlagen"), die Formulierung des zweiten Satzes ("jedoch", "der Antrag") die Bestimmungen beider Sätze verknüpft, wobei der zweite Satz ein Sonderfall der Grundregel des ersten darstellt und ein Kriterium der Offensichtlichkeit für Teile der Patentanmeldung bzw. des Patents, und nicht eines beliebigen Dokuments, einführt, was ernstere Konsequenzen für die betroffenen Interessen nach sich zieht. Die Kammer stellte fest, dass die wörtliche Betrachtung allein noch kein eindeutiges Bild vom Umfang von R. 139 EPÜ liefert. Einerseits war die Sprache des ersten Satzes offengehalten. Andererseits wiesen seine Verknüpfung zum Inhalt der Patentanmeldung bzw. des Patents im zweiten Satz sowie der Mangel weiterer Bedingungen jeweils auf gewisse Beschränkungen hin. Die wörtliche Auslegung der Bestimmung brachte die Kammer daher nicht zu einem klaren Schluss. Die Kammer führte ihre Analyse mit einer systematischen Auslegung fort.