8. Nationale Entscheidungen und Gesetzgebung in Vertragsstaaten des EPÜ
8.1. Nationale Entscheidungen: Berücksichtigung im Sinne der Harmonisierung
In G 1/83 stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass bei der Auslegung internationaler Verträge, durch die Rechte und Pflichten natürlicher oder juristischer Personen begründet werden, auch die Frage der Harmonisierung nationaler und internationaler Vorschriften in Betracht gezogen werden muss. Dieser Auslegungsgesichtspunkt, der im Wiener Übereinkommen nicht behandelt wird, ist dann von besonderer Bedeutung, wenn Bestimmungen eines internationalen Vertrags, wie es im europäischen Patentrecht der Fall ist, in nationale Gesetzgebungen übernommen wurden. Zur Schaffung eines harmonisierten Patentrechts in den Vertragsstaaten ist eine harmonisierte Auslegung notwendig. Deshalb muss auch das EPA, insbesondere seine Beschwerdeinstanz, die Rechtsprechung und die Rechtsauffassungen der Gerichte und Patentämter in den Vertragsstaaten in Betracht ziehen. Diese Ansicht wurde in G 2/12, G 2/13 und G 3/19 bestätigt.
In G 2/21 (ABl. 2023, A85) beispielsweise analysierte die Große Beschwerdekammer den nationalen Rechtsrahmen und die nationale Rechtsprechung zur Stützung auf eine behauptete technische Wirkung zum Nachweis erfinderischer Tätigkeit in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, der Schweiz und dem Vereinigten Königreich (England und Wales). Sie befand, dass keine der Rechtsordnungen dieser Vertragsstaaten des EPÜ – ebenso wenig wie das EPÜ – ein ausdrückliches Patentierbarkeitserfordernis für "Plausibilität" beinhalteten. Die Große Beschwerdekammer stellte darüber hinaus als eine gewisse gemeinsame Grundlage fest, dass die Gerichte der EPÜ-Vertragsstaaten für die Prüfung einer behaupteten technischen Wirkung bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit und zur Beantwortung der Frage, ob sich ein Patentinhaber auf nachveröffentlichte Beweismittel zur Bestätigung dieser technischen Wirkung stützen darf, die technische Lehre des beanspruchten Gegenstands heranziehen, die die Fachperson der Patentanmeldung vor dem Hintergrund ihres allgemeinen Fachwissens entnimmt.
In J 14/19 stellte die Kammer fest, dass von R. 14 (1) EPÜ nicht bestimmt wird, zu welchem Zeitpunkt ein nationales Verfahren als eingeleitet gilt. Auch an anderer Stelle enthält das EPÜ keine autonome Definition der Rechtshängigkeit nationaler Gerichtsverfahren. Die Frage des Zeitpunkts der Rechtshängigkeit ist daher nach dem Verfahrensrecht jenes Staates zu beurteilen, dessen Gerichte zum Treffen einer Entscheidung im Sinne des Art. 61 (1) EPÜ angerufen wurden (s. J 7/00, J 2/14; s. auch T 1138/11). Art. 8 des Protokolls über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung von Entscheidungen über den Anspruch auf Erteilung eines europäischen Patents ("Anerkennungsprotokoll") stütze dieses Auslegungsergebnis. Im Sinne eines einheitlichen europäischen Rechtsverständnisses kann in diesem Zusammenhang die Rechtsprechung des EuGH zu Art. 21 des Übereinkommens von Brüssel von 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen – die beide Art. 8 des Anerkennungsprotokolls inhaltlich entsprechen und diesem zeitlich vorausgehen – unterstützend herangezogen werden. Auch diesbezüglich ist der Zeitpunkt der Rechtshängigkeit für jedes Gericht nach seinem jeweiligen nationalen Verfahrensrecht zu beurteilen (EuGH, Rs. 129/83).
In T 439/22 (ABl. 2024, A104) legte die Kammer der Großen Beschwerdekammer Rechtsfragen zur Anspruchsauslegung vor (Fall G 1/24). In ihrer Entscheidung prüfte die Kammer die Rechtsprechung der Beschwerdekammern ebenso wie die Herangehensweisen an die Anspruchsauslegung der Gerichte in Frankreich, Deutschland und dem Vereinigten Königreich sowie des Berufungsgerichts des Einheitlichen Patentgerichts.