5.1.5 Ermessen bei der Zulassung von Änderungen
In vielen Entscheidungen zogen die Kammern als Rechtsgrundlage für das Ermessen der Einspruchsabteilung, verspätet eingereichte Anträge zuzulassen oder abzulehnen, Art. 114 (2) EPÜ (manchmal in Verbindung mit R. 71a EPÜ 1973 oder R. 116 EPÜ als dessen Ausführungsvorschrift) heran (s. insbesondere T 1105/98, die die vorbereitenden Dokumente zu R. 71a EPÜ 1973 anführte, ohne jedoch zwischen den Absätzen 1 und 2 von R. 71a EPÜ 1973 zu unterscheiden; s. auch z. B. T 4/98, T 811/08, T 66/12, T 1214/12, T 2385/12, T 2332/15, T 44/17, T 350/17 und T 879/18). In T 1855/13 wurde ein Vorbringen, das einen Anspruchsantrag enthält, ausdrücklich als eine Tatsache im Sinne von Art. 114 (2) EPÜ angesehen (siehe auch T 604/01, in der das Patent in der erteilten Fassung und die Ansprüche in ihrer geänderten Fassung als Tatsachen angesehen wurden; und T 1776/18, in der die Kammer befand, dass ein Patentanspruch als eine Darstellung technischer Tatsachen in Rechtsbegriffen und somit als "Tatsachen und Beweismittel" im Sinne von Art. 114 (2) EPÜ anzusehen ist). Siehe auch die zusätzliche Rechtsprechung in T 1776/18, Nr. 4.5 der Gründe, und T 364/20.
In T 1776/18 verwies die Kammer auf Beispiele aus der Rechtsprechung, in denen Art. 114 (2) EPÜ, insbesondere in Verbindung mit R. 116 (1) EPÜ, als Rechtsgrundlage für das Ermessen der Einspruchsabteilung, Anspruchsanträge nicht zuzulassen, angesehen wurde (siehe z. B. T 1270/18, T 85/19). Sie verwies außerdem auf Entscheidungen, die Art. 114 (2) EPÜ in Verbindung mit R. 116(2) EPÜ als Rechtsgrundlage für die Nichtzulassung geänderter Anträge heranzogen (z. B. T 2536/12, T 1758/15). Die Kammer stimmte mit der Rechtsprechung überein, wonach Art. 114 (2) EPÜ eine Rechtsgrundlage für die Nichtzulassung von Anspruchsanträgen bildet, und gelangte zu dem Schluss, dass in Vorbringen, die implizit oder explizit begründete Anspruchsanträge enthielten, Tatsachenelemente vorhanden sind. Dieses Vorhandensein von Tatsachenelementen rechtfertige die Heranziehung von Art. 114 (2) EPÜ als Rechtsgrundlage für die Nichtberücksichtigung von verspätet eingereichten Anspruchsanträgen (J 14/19). Die Anwendung von Art. 114 (2) EPÜ auf geänderte Anspruchsanträge und damit auf Vorbringen sowohl von Einsprechenden als auch von Patentinhabern gewährleiste zudem die Gleichbehandlung der Beteiligten nach denselben Kriterien und damit die Waffengleichheit. Siehe auch T 364/20, T 1733/22.
Zur gegenteiligen Auffassung, wonach Art. 114 (2) EPÜ nicht Grundlage für die Ermessensausübung der Einspruchsabteilung in Bezug auf Anträge sein könne, siehe T 755/96, T 281/99, T 688/16, T 754/16.
In T 281/99 erklärte die Kammer, dass ihr kein Artikel oder keine Regel des EPÜ und keine Rechtsprechung bekannt sei, der bzw. die die Einspruchsabteilung dazu verpflichten würde, während des Verfahrens eingereichte neue Ansprüche zurückzuweisen ungeachtet ihres Inhalts und der Gründe für ihre verspätete Einreichung. Sie stellte fest, dass sich Art. 114 (2) EPÜ nicht auf die Einreichung geänderter Ansprüche bezieht, wies aber darauf hin, dass auch dieser Artikel nicht das Ermessen der Einspruchsabteilung berührt, neue Tatsachen und Beweismittel zuzulassen, die nicht rechtzeitig eingereicht wurden.
In T 754/16 wies die Kammer darauf hin, dass Art. 114 (2) EPÜ keine Grundlage für die Nichtberücksichtigung von während der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung gestellten Hilfsanträge bietet. Zum einen sei dieser Artikel nicht auf verspätet eingereichte Anträge im Sinne von geänderten Ansprüchen, sondern nur auf verspätet vorgebrachte Tatsachen und Argumente anwendbar. Zum anderen seien die Hilfsanträge im vorliegenden Fall als direkte und unmittelbare Reaktion auf die geänderte Stellungnahme der Einspruchsabteilung rechtzeitig gestellt worden. Der Inhaber habe keine frühere Gelegenheit gehabt, darauf zu reagieren.