4.5.4 Zulassung neuer Anträge
Unabhängig davon, ob die Zulassung von neuen Anspruchsanträgen nach Art. 13 (2) VOBK in einem Schritt oder in zwei Schritten geprüft wird (s. hierzu Kapitel V.A.4.5.1 g)), geben jedenfalls außergewöhnliche Verfahrensentwicklungen, die eine Reaktion rechtfertigen, keinen Freibrief ("carte blanche", s. T 1080/15) für jedwede Änderung der Anspruchssätze. Vielmehr wird der Aspekt der "neuen Einwände" nur als eines von mehreren anderen Kriterien betrachtet, darunter die Komplexität oder die eindeutige Zulässigkeit der vorgenommenen Änderungen (wie z. B. in T 2632/18 unter Verweis auf T 2271/18, T 1482/17 und T 1278/18 hervorgehoben).
Laut ständiger Rechtsprechung können die Kammern in der dritten Stufe des Konvergenzansatzes in Ausübung ihres Ermessens nach Art. 13 (2) VOBK auch Kriterien heranziehen, die für die zweite Stufe des Konvergenzansatzes maßgeblich sind, d. h. wie in Art. 13 (1) VOBK festgelegt (s. z. B. T 989/15, T 2010/15, T 584/17, T 954/17, T 752/16, T 764/16, T 709/16, T 855/16, T 101/18, T 995/18, T 1869/18, T 416/19, T 541/20, T 920/20, T 1780/20, T 719/22). Wie etwa in T 2429/17 betont, gehören hierzu auch die Kriterien der ersten Stufe des Konvergenzansatzes, d. h. die in Art. 12 (4) bis (6) VOBK festgelegten Kriterien (s. auch den entsprechenden Verweis in Art. 13 (1) Satz 2 VOBK).
(i) Kriterium, ob Änderungen prima facie die erhobenen Einwände ausräumen und keinen Anlass zu neuen Einwänden geben
Wie in T 1107/16 festgestellt, muss der Beschwerdeführer gemäß den Erläuterungen zu Art. 13 (1) VOBK aufzeigen, warum die Änderung die von der Kammer erhobenen Einwände ausräumt und warum die Änderung prima facie keinen Anlass zu neuen Einwänden gibt.
Im Ex-parte-Fall T 1609/16 stellte die Kammer fest, dass der Hauptantrag offensichtlich in Reaktion auf in ihrer vorläufigen Einschätzung erhobene neue Klarheitseinwände eingereicht worden war. Des Weiteren waren die Änderungen der ursprünglichen Ansprüche einfach, lösten eindeutig die noch offenen Fragen und das in einer Weise, die bereits in der schriftlichen Einschätzung der Kammer erwogen worden war, und führten zudem weder einen neuen Gegenstand ein, noch gaben sie Anlass zu neuen Einwänden, die weiterer Prüfung bedurft hätten. Daher entschied die Kammer, den Hauptantrag im Beschwerdeverfahren zuzulassen.
Für weitere Fälle, in denen die Kammern dieses Kriterium prüften und zu dem Schluss kamen, dass es erfüllt war, siehe z. B. T 1107/16, T 1338/16, T 545/18, T 1278/18, T 416/19, T 655/19.
Hingegen waren diese Kriterien in den folgenden Beispielen nicht erfüllt und wurden die Anträge daher zurückgewiesen.
In T 953/16 brachte der Beschwerdeführer (Anmelder) vor, dass die strittigen neuen Hilfsanträge eine legitime Reaktion auf einen von der Kammer in ihrer Mitteilung nach Art. 15 (1) VOBK erhobenen Einwand der Klarheit waren. Nach Auffassung der Kammer stellten die Änderungen des Anspruchs 1 in diesen Anträgen zwar einen Versuch zur Klarstellung der Ansprüche dar, doch hatten die von der Kammer in ihrer Mitteilung erhobenen Einwände mangelnder erfinderischer Tätigkeit diese Merkmale bei der Auslegung des Anspruchs 1 bereits berücksichtigt. Daher war für die Kammer klar, dass die Änderungen inhaltlich nichts zur Erörterung der erfinderischen Tätigkeit beitragen und somit nicht alle von der Kammer aufgeworfenen offenen Fragen beantworten würden. Angesichts der negativen Schlussfolgerungen der Kammer zur erfinderischen Tätigkeit in Bezug auf die höherrangigen Anträge vermochte sie keinen außergewöhnlichen Umstand zu erkennen, der die Zulassung der neuen Hilfsanträge zum Beschwerdeverfahren rechtfertigen könnte.
In T 709/16 (ex parte) übte die Kammer ihr Ermessen nach Art. 13 (2) VOBK mit Blick auf die Eignung der Änderung im Hilfsantrag I den von der Kammer aufgeworfenen Einwand der fehlenden erfinderischen Tätigkeit auszuräumen. Die Änderung war jedoch nicht geeignet, diesen Einwand auszuräumen, da sie nur dazu gedacht war, ein bestimmtes Merkmal klarzustellen, und sich der Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit gegen den Hauptantrag bereits auf dieses Verständnis gestützt hatte.
In T 2257/19 befand die Kammer, dass eine unentrinnbare Falle die Zulassung neuer Anträge nach Art. 13 (1) und (2) VOBK an sich ausschließe, da die Erfordernisse von Art. 123 (2) und (3) EPÜ nicht gleichzeitig erfüllt werden könnten. Demnach und unabhängig von der Frage nach dem Vorliegen außergewöhnlicher Umstände, die das Einreichen der neuen Anträge im allerletzten Verfahrensstadium hätten rechtfertigen können, wurden Hilfsanträge 4A bis 4C nach Art. 13 (1) und (2) VOBK nicht ins Verfahren zugelassen, da sie prima facie die nach Art. 123 (2) EPÜ erhobenen Einwände nicht ausräumen könnten, ohne gegen die Erfordernisse von Art. 123 (3) EPÜ zu verstoßen.
Für weitere Fälle, in denen die neuen Anträge nicht zugelassen wurden, weil sie u. a. nicht (prima facie) die aufgeworfenen Einwände ausräumten, siehe T 2429/17 (ex parte, Klarheitseinwand), T 2692/18 (inter partes, Einwand gegen die erfinderische Tätigkeit), T 884/18 (inter partes, Prioritätsfrage) und T 2271/18 (ex parte, Klarheitseinwand), T 416/19 (ex parte, reine Wiedergabe von Informationen), T 920/20 (inter partes, Einwand nach Art. 123 (2) EPÜ, neue Anträge erst in der mündlichen Verhandlung eingereicht).
Für weitere Fälle, in denen die neuen Anträge Anlass zu neuen Einwänden gaben, siehe z. B. T 995/18 (inter partes, Einwand nach Art. 123 (2) EPÜ), T 2271/18 (ex parte, Klarheitseinwand), T 855/16 (ex parte, Einwand nach Art. 123 (2) EPÜ), T 920/20 (inter partes, Einwand nach Art. 123 (2) EPÜ, neue Anträge erst in der mündlichen Verhandlung eingereicht), T 2795/19 (ex parte, Einwand nach Art. 123 (2) EPÜ, Antrag als Ersatz aller früheren Anträge erst in dermündlichen Verhandlung eingereicht).
(ii) Verfahrensökonomie und Komplexität
In T 764/16 enthielt Anspruch 1 des geänderten Hilfsantrags nun zwingend ein in Anspruch 1 des Hauptantrags nur optional angegebenes Merkmal. Die Kammer hob aber hervor, dass die angefochtene Entscheidung keine Auseinandersetzung mit diesem Merkmal enthielt, da sich das erstinstanzliche Verfahren auf Einwände im Hinblick auf das alternative Merkmal 1k konzentriert hatte. Zudem war das Merkmal nach Ansicht der Kammer auslegungsbedürftig. Die Kammer und der Beschwerdeführer wurden daher durch die Vorlage der Hilfsanträge nach Zustellung der Ladung mit neuen Sachverhalten konfrontiert, welche komplexe Fragen aufwarfen und gegebenenfalls bei Zulassung der Anträge eine Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung erfordert hätten. Die Änderungen der Hilfsanträge waren somit der Verfahrensökonomie abträglich. Die Kammer konnte keine außergewöhnlichen Umstände im Sinne des Art. 13 (2) VOBK erkennen, welche die verspätete Vorlage der obigen Hilfsanträge rechtfertigen könnten.
In T 920/20 wies die Kammer darauf hin, dass die Beschwerdegegner bereits mit ihrer Beschwerdeerwiderung auf die Einwände unter Art. 123 (2) EPÜ der Beschwerdeführer hätten reagieren können. Darüber hinaus waren nach Auffassung der Kammer auch die Kriterien von Art. 13 (1) VOBK, die bei der Anwendung von Art. 13 (2) VOBK herangezogen werden können (siehe z. B. T 989/15), hier nicht erfüllt, da die Kombination von erteilten Ansprüchen, auf welcher der neue Anspruch 1 basieren sollte, zu einem völlig neuen und komplexen Sachverhalt führte, bei welchem "prima facie" äußerst fraglich blieb, ob durch die vorgeschlagenen Änderungen die aufgeworfenen Fragen ausgeräumt werden könnten, zugleich aber absehbar war, dass sie Anlass zu neuen Einwänden geben würden. Die Kammer sah die umfangreiche Diskussion, die erforderlich wäre, als der Verfahrensökonomie abträglich an und zu einem so späten Verfahrensstadium schwer zumutbar.
In T 541/20 berücksichtigte die Kammer nicht nur die Prima-facie-Gewährbarkeit der Änderungen, sondern auch, dass sie den Fall weniger komplex machten, da die Einwände gegen die gestrichenen Ansprüche hinfällig wurden. Daher wurde der betreffende Antrag zugelassen.
(iii) Konvergenz
In T 528/19 wies die Kammer darauf hin, dass Konvergenz ein heranzuziehendes Kriterium bei der Betrachtung der Verfahrensökonomie gemäß Art. 13 VOBK ist.
In T 1436/19 beantragte der Beschwerdeführer (Patentinhaber) einige Wochen vor der mündlichen Verhandlung eine Neuordnung der mit der Beschwerdebegründung eingereichten Anträge. Die Kammer entschied, dass es sich dabei um eine Änderung des Beschwerdevorbringens des Beschwerdeführers handelte und der Antrag nicht berücksichtigt werden konnte, unter anderem weil die gewünschte Neuordnung eindeutig zu mangelnder Konvergenz der Anträge führte. Siehe auch Kapitel V.A.4.5.4 q) "Neuordnung der Anträge".
Im Ex-parte-Verfahren T 1080/15 bezogen sich die unabhängigen Ansprüche des Hilfsantrags VII, der nach der Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung eingereicht wurde, auf eine in einer der Abbildungen und in der Beschreibung offenbarte Ausführungsform, die allerdings bis dahin nicht beansprucht worden war. Die Ausführungsform war nicht geprüft worden und stellte keine konvergierende Entwicklung des in den höherrangigen Hilfsanträgen beanspruchten Gegenstands dar. Die Kammer befand, dass ein erstmals von der Kammer erhobener Einwand zwar als außergewöhnlicher Umstand angesehen werden könnte, der die Zulassung eines Antrags rechtfertigt, jedoch kein Freibrief für den Beschwerdeführer sei, die Ansprüche nach Belieben zu ändern. Die Änderungen sollten in der Regel im Rahmen der Ausführungsformen bleiben, die von der ersten Instanz geprüft worden waren.
Ein weiteres Beispiel findet sich in T 1717/17.