2.7. Rechtliches Gehör in der mündlichen Verhandlung
2.7.4 Vernehmung von Zeugen
Zur Relevanz der Beweismittel siehe Kapitel III.G.3.1. "Relevanz der Beweismittel" und zu weiteren Aspekten des Anspruchs auf rechtliches Gehör während der Beweisaufnahme siehe Kapitel III.G.3.3. "Rechtliches Gehör".
In T 142/97 kam die Kammer zu dem Schluss, die Einspruchsabteilung habe den Anspruch des Einsprechenden auf rechtliches Gehör nach Art. 113 (1) EPÜ durch den Verzicht auf die Vernehmung eines Zeugen verletzt, der im Zusammenhang mit einer in der Einspruchsschrift ausreichend substantiierten Vorbenutzung angeboten worden war. Siehe auch T 959/00, in dem die Kammer befand, dass die Nichtvernehmung des Zeugens durch die Einspruchsabteilung und das Fehlen jeglicher Begründung in der angefochtenen Entscheidung, warum die Zeugenvernehmung nicht erforderlich gewesen sei, eine Verletzung des rechtlichen Gehörs war und damit einen wesentlichen Verfahrensmangel darstellte.
Im Fall T 269/00 unterschied die Kammer die Sachlage von der in T 142/97, weil die Begründung der Vorbenutzung nicht während der Einspruchsfrist ausreichend substantiiert, sondern im Verlauf des Einspruchsverfahrens nach und nach vorgebracht worden war. Die Kammer kam zu dem Schluss, dass es keinen wesentlichen Verfahrensmangel darstellt, wenn auf die Vernehmung eines Zeugen verzichtet wurde.
In T 474/04 (ABl. 2006, 129) stellte die Kammer fest: Werden Behauptungen aus einer eidesstattlichen Versicherung bestritten, so muss dem Antrag auf Zeugenvernehmung stattgegeben werden, bevor diese Behauptungen einer Entscheidung zuungunsten dessen zugrunde gelegt werden, der sie bestreitet.
In T 909/03 war ein Zeuge am Vormittag vernommen und die mündliche Verhandlung am Nachmittag fortgesetzt worden. Die Kammer entschied, dass einem Beteiligten kein Exemplar der Niederschrift über die Zeugenaussage ausgehändigt werden muss, bevor er dazu Stellung nimmt. In der mündlichen Verhandlung habe der Beteiligte ausreichend Gelegenheit gehabt, Stellung zu nehmen. Somit sei kein wesentlicher Verfahrensmangel aufgetreten.
In T 716/06 bestätigte die Kammer, dass die zuständige Abteilung einen Antrag eines Beteiligten auf Anhörung eines Zeugen nur dann stattgeben sollte, wenn sie das mündliche Beweismittel für notwendig erachtet, um Punkte klarzustellen, die für die zu treffende Entscheidung maßgeblich waren. Die zuständige Abteilung müsse jedoch in der Regel dem Antrag eines Einsprechenden, einen Zeugen zu einer angeblichen öffentlichen Vorbenutzung und zur Offenbarung eines bestimmten Merkmals im Rahmen dieser Vorbenutzung zu vernehmen, stattgeben, bevor sie entscheide, dass die angebliche Vorbenutzung weder nachgewiesen sei noch eine neuheitsschädliche Vorwegnahme darstelle.
In T 1100/07 befand die Kammer, dass die Einspruchsabteilung einen der angebotenen Zeugen hätte vernehmen müssen. Da für die abschließende Entscheidung der Einspruchsabteilung maßgeblich war, dass das Vorliegen eines einzigen bestimmten Merkmals nicht belegt werden konnte, und der Zeuge angeblich in der Lage gewesen wäre, genau zu diesem Punkt auszusagen, war die Entscheidung, ihn nicht zu vernehmen, falsch und hat den Ausgang des Verfahrens unter Umständen beeinflusst. Der Beschwerdeführer war nach dem EPÜ berechtigt, Beweise in jeder in Art. 117 EPÜ aufgeführten Weise vorzulegen, und die Verweigerung dieser Möglichkeit stellte somit einen wesentlichen Verfahrensmangel dar. Siehe auch T 2386/19 und T 2517/22. Der Kammer in T 2517/22 zufolge ist die Einspruchsabteilung außerdem verpflichtet, ihre Entscheidung auf der Grundlage aller tatsächlich verfügbaren relevanten Beweismittel zu treffen, anstatt das Vorlegen weiterer bevorzugter Beweismittel zu erwarten und über die Gründe ihres Fehlens zu spekulieren und daraus Schlüsse zu ziehen (s. auch Kapitel III.G.3.3.4 "Fälschliche Ablehnung des Beweisangebots").
In T 1738/21 stellte die Kammer fest, dass das Versäumnis der Einspruchsabteilung, drei der angebotenen Zeugen anzuhören, einen "schwerwiegenden Verfahrensmangel" darstellte. Nach Auffassung der Kammer schienen die Zeugenaussagen für die entscheidungserheblichen Merkmale im Einspruchsverfahren relevant zu sein. Die Kammer konnte in der angefochtenen Entscheidung weder einen Hinweis auf das Zeugenangebot des Beschwerdeführers noch eine Angabe der Gründe der Einspruchsabteilung für die Nichtvernehmung der angebotenen Zeugen finden. Die Kammer erinnerte daran, dass in Art. 117 (1) und 113 (1) EPÜ ein grundlegendes Verfahrensrecht verankert ist, nämlich das Recht einer Partei, Beweise in geeigneter Form anzubieten, und das Recht, dass diese Beweise berücksichtigt werden. Wenn sich die angebotenen Beweismittel auf Tatsachenbehauptungen beziehen, die für die zu treffende Entscheidung maßgeblich sind, so habe das mit der Sache befasste Organ grundsätzlich deren Erhebung anzuordnen.
In T 423/22 betonte die Kammer, dass die Vernehmung des Zeugen per Videokonferenz im vorliegenden Fall den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör nicht verletzt habe, da sie die Interaktion zwischen der Einspruchsabteilung, den Parteien und dem Zeugen im Vergleich zur Vernehmung eines Zeugen im Verhandlungssaal nicht wesentlich eingeschränkt habe. Selbst wenn ein Teil der Körpersprache nicht zu sehen sei, könnte dieser Nachteil das Recht einer Partei, anwesend zu sein und dem Zeugen Fragen zu stellen, niemals so weit beeinträchtigen, dass ihr Anspruch auf rechtliches Gehör, d. h. die "Gelegenheit, sich zu Gründen oder Beweismitteln zu äußern" (Art. 113 (1) EPÜ), verletzt würde. Für weitere Informationen zu dieser Entscheidung s. auch Kapitel III.C.8.3.3 e) "Anwendbarkeit der Erwägungen aus G 1/21 date: 2021-07-16 auf erstinstanzliche Verfahren und die Zeugenvernehmung" und III.G.3.1.8 "Beweisaufnahme per Videokonferenz".