2.7. Rechtliches Gehör in der mündlichen Verhandlung
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2.7. Rechtliches Gehör in der mündlichen Verhandlung
Das in Art. 116 (1) EPÜ geregelte Recht auf eine mündliche Verhandlung ist ein wesentlicher Bestandteil des durch Art. 113 (1) EPÜ garantierten rechtlichen Gehörs (T 209/88, T 862/98, T 1050/09). Der Anspruch auf rechtliches Gehör in einer mündlichen Verhandlung besteht so lange, wie das Verfahren vor dem EPA anhängig ist (T 598/88, T 556/95, T 114/09).
Das in Art. 113 (1) EPÜ verbriefte Recht, sich zu äußern, muss nicht unbedingt schriftlich ausgeübt werden; ihm kann durch eine mündliche Verhandlung entsprochen werden (T 1237/07). Das bedeutet jedoch nicht, dass es Aufgabe einer Beschwerdekammer ist, von Amts wegen dafür zu sorgen, dass alle Punkte, die zu irgendeinem Zeitpunkt des Beschwerdeverfahrens aufgeworfen worden sind, in der mündlichen Verhandlung besprochen werden. Es obliegt den Parteien, einen Punkt, den sie für relevant halten und der ihrer Ansicht nach übersehen werden könnte, anzusprechen und – gegebenenfalls mit einem formalen Antrag – auf seiner Behandlung zu bestehen (R 17/11). Dies gilt auch in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung (T 7/12).
In T 2232/11 entschied die Kammer, die bloße Ankündigung eines weiteren Vortrags auf der Grundlage weiterer Dokumente zu Beginn der Diskussion über die Ausführbarkeit der Erfindung reiche nicht aus, um eine Verpflichtung der Prüfungsabteilung zu begründen, dieser bloßen Ankündigung im Rahmen der mündlichen Verhandlung von Amts wegen nachzugehen. Es lag daher im Verantwortungsbereich der Anmelderin die Prüfungsabteilung erforderlichenfalls mit einem förmlichen Antrag darauf aufmerksam zu machen, dass ein weiterer Vortrag zu diesem Thema beabsichtigt sei. Angesichts dieser Verfahrenssituation, musste die Anmelderin damit rechnen, dass die Prüfungsabteilung nach Unterbrechung der Verhandlung und anschließender Beratung zu einer Endentscheidung gelangen könnte.
Umgekehrt kann Art. 113 (1) EPÜ nicht so ausgelegt werden, dass das rechtliche Gehör eines Beteiligten bereits erfüllt ist, wenn ein Beteiligter, der eine mündliche Verhandlung nach Art. 116 EPÜ beantragt hat, sich schriftlich äußern konnte. Würde man dieser Auslegung des Art. 113 (1) EPÜ folgen, so wäre das Recht der Beteiligten auf mündliche Verhandlung nach Art. 116 EPÜ überflüssig, was die nicht hinnehmbare Konsequenz hätte, dass eine Einspruchsabteilung oder eine Beschwerdekammer zu einer kontroversen Streitfrage, die im schriftlichen Verfahren erörtert wurde, gleich zu Beginn der mündlichen Verhandlung eine Entscheidung erlassen könnte, ohne die Beteiligten zu hören (T 1077/06). Siehe auch T 2610/19, in der die Kammer zu dem Schluss kam, dass die Weigerung der Einspruchsabteilung, den Einsprechenden in der mündlichen Verhandlung zur Relevanz weiterer Ansatzpunkte anzuhören, eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör darstellte.
In T 1414/18 befand die Kammer, dass eine vor der endgültigen Entscheidung über die Zurückweisung einer Patentanmeldung abgegebene Erklärung wie "der nächste Verfahrensschritt ist die Ladung zur mündlichen Verhandlung, in der die Anmeldung zurückgewiesen wird", den Anspruch eines Beteiligten auf rechtliches Gehör verletzen und so zu einem wesentlichen Verfahrensmangel führen kann. Die Formulierung "[wird] zurückgewiesen" impliziere – auf objektiver Basis –, dass die Anmeldung letztendlich gemäß Art. 97 (2) EPÜ zurückzuweisen sei, ungeachtet etwaiger Tatsachen oder Argumente, die der Anmelder möglicherweise noch hätte vorbringen können. Eine solche Verfahrensführung widerspreche dem Ziel und Zweck des rechtlichen Gehörs gemäß Art. 113 (1) EPÜ.
Die Nichtbeachtung eines Antrags auf mündliche Verhandlung enthält dem Beteiligten eine wichtige Gelegenheit vor, seine Sache in der von ihm beabsichtigten Weise und unter Nutzung der ihm nach dem EPÜ gebotenen Möglichkeiten vorzubringen. Aufgrund des Antrags auf mündliche Verhandlung kann sich der Beschwerdeführer darauf verlassen, dass er vor Erlass einer ihn beschwerenden Entscheidung Gelegenheit haben wird, seine Sache mündlich vorzutragen, und er hat daher keinen Anlass zu einer vorherigen weiteren schriftlichen Stellungnahme gehabt (s. T 209/88, T 1050/09; s. auch Kapitel III.C.3. "Das Recht auf mündliche Verhandlung"). In T 2024/21 kam die Kammer zu dem Schluss, dass die ständige Weigerung der Prüfungsabteilung, eine mündliche Verhandlung anzuberaumen, und ihre Erklärung hierfür deutlich gemacht haben, dass der Beschwerdeführer keine realistische Möglichkeit hatte, dass seinem Antrag auf mündliche Verhandlung stattgegeben wird. Die Kammer stellte fest, dass der Beschwerdeführer seinen Antrag auf mündliche Verhandlung zwar letztlich zurückgenommen und eine Entscheidung nach Aktenlage beantragt hatte, dass ihm aber angesichts des Verlaufs des gesamten Prüfungsverfahrens das in Art. 113 (1) und 116 (1) EPÜ verankerte Recht auf eine mündliche Verhandlung genommen wurde (s. auch in diesem Kapitel III.B.2.3.2, Kapitel III.C.3.1. "Recht auf mündliche Verhandlung im Prüfungs-, Einspruchs- und Beschwerdeverfahren" und Kapitel III.C.5.3.4 "Pflicht zur Durchführung der mündlichen Verhandlung trotz Rücknahme des entsprechenden Antrags").
Eine wirksame und effiziente Durchführung der mündlichen Verhandlung unterliegt zwar dem Ermessen des Vorsitzenden, muss aber dennoch gewährleisten, dass die grundlegenden Verfahrensrechte jedes Beteiligten im kontradiktorischen Verfahren, d. h. das Recht auf faire und gleiche Behandlung sowie das Recht, sich in der mündlichen Verhandlung zu äußern (Art. 113 (1) und 116 EPÜ), gewahrt sind (T 1027/13; s. auch Kapitel IV.C.6.1. "Grundsatz der Gleichbehandlung").
Die Weigerung der Prüfungsabteilung, in der mündlichen Verhandlung Ausführungen eines Beteiligten zu Protokoll zu nehmen, stellt keine Verletzung des rechtlichen Gehörs dar (T 1055/05).
Das rechtliche Gehör eines Beteiligten nach Art. 113 (1) EPÜ impliziert kein eigenes rechtliches Gehör seines Vertreters und damit kein Recht auf mündliche Verhandlung beim EPA per Videokonferenz (T 2068/14). In T 1624/20 war die Kammer der Auffassung, dass die Entscheidung, das Format der mündlichen Verhandlung zu ändern, ohne dem Beschwerdeführer die Möglichkeit zu geben, sich im Vorfeld dazu zu äußern, keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör darstellte. Die Kammer merkte an, dass im Vorfeld der mündlichen Verhandlung bereits ein umfassender Austausch von Argumenten zum Format der mündlichen Verhandlung stattgefunden habe (s. auch T 250/19). Die Große Beschwerdekammer stellte in R 12/22 klar, dass eine nur theoretische Möglichkeit verschlechterter Kommunikation und Austauschmöglichkeit im Rahmen einer als Videokonferenz durchgeführten mündlichen Verhandlung vor einer Beschwerdekammer keinen Verstoß gegen Art. 113 (1) EPÜ darstellt. Siehe auch Kapitel III.C.8.3. "Format mündlicher Verhandlungen".
- R 0007/22
Der Antrag auf Überprüfung in R 7/22 wurde darauf gestützt, dass die zu überprüfende Entscheidung in mehrfacher Hinsicht mit einem schwerwiegenden Verfahrensmangel behaftet sei, und – ebenfalls in mehrfacher Hinsicht – ein schwerwiegender Verstoß gegen Art. 113 EPÜ vorliege.
Bei der Prüfung der Begründetheit des Überprüfungsantrags bezüglich der geltend gemachten Verfahrensmängel gemäß Art. 112a (2) d) EPÜ erinnerte die Große Beschwerdekammer (GBK) daran, dass die in R. 104 EPÜ nicht genannten Verfahrensmängel nicht als schwerwiegende Verfahrensmängel im Sinne des Art. 112a (2) d) EPÜ gelten. Die Antragstellerin hatte sich aber weder auf das Übergehen eines Antrags auf mündliche Verhandlung (R. 104 a) EPÜ) noch eines sonstigen relevanten Antrags im Verfahren (R. 104 b) EPÜ) berufen. Dementsprechend betrachtete die GBK den Überprüfungsantrag bezüglich dieser geltend gemachten Verfahrensmängel als offensichtlich unbegründet.
Im Rahmen der Prüfung der Begründetheit des Überprüfungsantrags im Hinblick auf die geltend gemachten Verfahrensmängel nach Art. 112a (2) c) EPÜ befasste sich die GBK mit den beanstandeten Verstößen gegen Art. 113 (1) EPÜ im Zusammenhang mit der angekündigten mündlichen Verhandlung in Präsenz und derer tatsächlicher Durchführung als Videokonferenz. Dabei betonte die GBK unter anderem Folgendes:
In G 1/21 hat die GBK entschieden, dass die Durchführung einer mündlichen Verhandlung als Videokonferenz grundsätzlich mit dem Recht auf rechtliches Gehör vereinbar ist, und in R 12/22 hat die GBK das ausführlich dargestellt. Im vorliegenden Fall hatte die Antragstellerin sich darauf beschränkt zu rügen, die im Fall G 1/21 gesetzten, sehr engen Voraussetzungen für die Durchführung einer mündlichen Verhandlung als Videokonferenz hätten nicht vorgelegen. Sie hatte keine konkreten Umstände behauptet, wodurch ihr die Ausübung ihres Rechts auf rechtliches Gehör im Beschwerdeverfahren verweigert wurde. Für die GBK waren auch keine derartigen Umstände ersichtlich. Eine allgemeine Beanstandung zu Beginn der Verhandlung, die Voraussetzungen für die Durchführung der mündlichen Verhandlung als Videokonferenz seien nicht gegeben, genügt aus den vorgenannten Gründen (wonach eine mündliche Verhandlung in Form einer Videokonferenz grundsätzlich mit dem Recht auf rechtliches Gehör vereinbar ist) nicht. Damit liegt in der Durchführung der mündlichen Verhandlung als Videokonferenz offensichtlich kein Gehörsverstoß.
Darüber hinaus befand die GBK, dass anders als im Falle der Ermessensausübung beim Thema Zulassung, eine unzutreffende Ermessensausübung zugunsten der Durchführung einer mündlichen Verhandlung als Videokonferenz mangels Einfluss auf das Recht auf rechtliches Gehör keinen Verstoß gegen dieses Recht begründen kann, wenn – wie hier – ein konkreter Mangel der Videokonferenz während derselben nicht behauptet worden war. Die Beteiligten waren im Übrigen zur Frage der Durchführung der mündlichen Verhandlung als Videokonferenz gehört worden, so dass auch insofern kein Gehörsverstoß vorlag.
In Bezug auf die durch die Antragstellerin geltend gemachten Mängel in der Begründung der zu überprüfenden Entscheidung verwies die GBK auf die in R 3/15, R 8/15, R 8/19, R 10/20 und R 12/22 formulierten relevanten Grundprinzipien. Sie erinnerte unter anderem daran, dass eine widersprüchliche Begründung nur dann beanstandet werden kann, wenn die Widersprüche gleichbedeutend damit sind, dass die Kammer das Vorbringen in den Entscheidungsgründen nicht behandelt und dieses objektiv betrachtet entscheidend für den Ausgang des Falles war. Ebenso wie die objektiv entscheidende Bedeutung für den Ausgang des Falles sich aufdrängen muss, muss sich auch aufdrängen, dass die widersprüchliche Begründung gleichbedeutend ist mit einer Nicht-Begründung, indem sie beispielsweise völlig konfus ist (R 12/22).
Zum Argument der Antragstellerin, die Begründungsmängel seien für den Fachmann augenfällig, befand die GBK, dass es sich bei der relevanten Person, der eklatante Begründungsmängel ins Auge springen müssen, um den Durchschnittsleser und nicht den Fachmann handelt.
Der Antrag auf Überprüfung wurde teilweise als offensichtlich unzulässig und im Übrigen als offensichtlich unbegründet verworfen.