2. Zulässige Beweismittel
2.6. Sonstige Urkunden
Das EPÜ enthält keine Definition des Begriffs "Urkunden" (Art. 117 (1) EPÜ) und keine Bestimmung über ihre Beweiskraft. Daher ist die Anwendung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung gerechtfertigt. Im Verfahren vor dem EPA ist einschließlich des Beschwerdeverfahrens jede wie auch immer geartete Urkunde zulässig (T 482/89, ABl. 1992, 646). Siehe beispielsweise auch G 2/21 (ABl. 2023, A85), Nr. 40 der Gründe.
In T 1698/08 erhob der Beschwerdegegner (Patentinhaber) Einwände gegen die Zulassung eines (Internet-)Auszugs aus dem Handelsregister Zürich, weil an dessen Ende der Satz stehe: "Die obenstehenden Informationen erfolgen ohne Gewähr und haben keinerlei Rechtswirkung." Aus seiner Sicht bedeutete dies, dass der Auszug nicht als Beweismittel im Sinne von Art. 117 (1) EPÜ zu betrachten sei. Die Kammer erklärte, dass die Weigerung, ein solches Beweismittel (einen nicht beglaubigten Handelsregisterauszug) zuzulassen, daher nicht auf Art. 117 (1) EPÜ gestützt werden kann. Sie entschied, dass kein Grund dafür bestand, in Ausübung ihres Ermessens die Zulassung des Beweismittels abzulehnen, weil dieses weder als irrelevant noch als unnötig bezeichnet werden konnte. Eine solche Ablehnung kann jedenfalls nicht auf Erklärungen im Dokument bezüglich der Genauigkeit der darin enthaltenen Fakten gestützt werden. Solche Erklärungen betreffen die Beweiskraft eines Dokuments.
In T 71/99 war der Ablauf der mündlichen Verhandlung in der von der Einspruchsabteilung verfassten Niederschrift nicht vollständig wiedergegeben. Um die Kammer über den tatsächlichen Verlauf der mündlichen Verhandlung ins Bild zu setzen, legte der Beschwerdegegner einen Auszug aus einer Niederschrift der Verhandlung vor der Einspruchsabteilung vor, die sein Vertreter in deren Verlauf diktiert hatte. Im Beschwerdeverfahren focht der Beschwerdeführer die Zulässigkeit des vorgelegten Auszugs an, ohne jedoch die Richtigkeit der in dieser Niederschrift ausgeführten Fakten zu bestreiten. Da der vorgelegte Auszug aus der Niederschrift aber wesentlich präziser war und keine Verständnisschwierigkeiten aufwarf, sprach nach Auffassung der Kammer nichts gegen die Zulassung dieses Dokuments im Beschwerdeverfahren. In R 3/08 befand die Große Beschwerdekammer, dass es (auch nach Berücksichtigung persönlicher Aufzeichnungen) keinen Anhaltspunkt dafür gab, dass der Antragsteller einen Einwand erhoben hatte.
In T 2274/22 befand die Kammer bezüglich der Besorgnis der Befangenheit vor der ersten Instanz in Verbindung mit der Zuschaltung eines Einsprechendenvertreters in den virtuellen Besprechungsraum zum Dolmetscher-Briefing, dass der Ablauf der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung sich anhand des Protokolls und seiner Anhänge, sowie anhand der Parteivorträge rekonstruieren lasse. Die Parteien bestätigten, dass das Protokoll die Tatsachen und den wesentlichen Ablauf korrekt wiedergab. Die Parteien waren sich auch über die weiteren Ereignisse einig, die sich nicht unmittelbar aus der Niederschrift ergaben, die aber für die Teilnehmer objektiv feststellbar waren.
Zur Rolle der Niederschrift über die mündliche Verhandlung als Beweismittel zum Ablauf des Verfahrens s. auch die Kapitel III.C.8.10, V.B.3.7.5 sowie R 7/11. S. auch in diesem Kapitel T 361/00 (Niederschrift nicht angefochten) sowie die Entscheidung T 2301/12, in der die Kammer, nachdem die Richtigkeit der Niederschrift nie bestritten worden war, davon ausging, dass diese den Ablauf richtig wiedergab. Desgleichen wurde in R 6/17 festgestellt, dass der Antragsteller die Niederschrift weder angefochten noch ihre Berichtigung beantragt hatte. Ebenso der Fall T 1604/22, in dem der Patentinhaber die Durchführung der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung als Videokonferenz zur Augenscheinseinnahme einer CD und zur Anhörung zweier Verfasser schriftlicher Versicherungen zwar angefochten hatte, keiner der Beteiligten aber Einwände gegen den Entwurf der Niederschrift bezüglich der Beweismittelaufnahme während der Anhörung erhoben hatte, der den Beteiligten noch in der mündlichen Verhandlung selbst vorgelegt worden war. Die Kammer wies die Einwände, wonach die Videokonferenz für die Augenscheinseinnahme der CD ungeeignet war, unter dem Hinweis zurück, dass Screenshots von der Augenscheinseinnahme in die Niederschrift der mündlichen Verhandlung eingefügt worden waren. In der Entscheidung T 246/22 stellte die Kammer zur Anwendung von Art. 12 (4) VOBK und zur Frage der Aufrechterhaltung von Anträgen fest, dass Letztere aus dem Protokoll der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung hervorging.
In mehreren Verfahren, die Vorbenutzungen betrafen, wurden Fotos als Beweismittel eingereicht (s. z. B T 833/99 (Fotos für zu ungenau befunden); T 1410/14, T 564/12, T 453/02 (als Anlage zu eidesstattlichen Versicherungen); T 973/10, T 1647/15; T 1127/97; T 544/14, T 1604/16, T 1202/20, T 778/21).
T 523/14 betraf einen Werbe-Newsletter als angebliche Vorveröffentlichung. Hinsichtlich der von den Einsprechenden vorgelegten Beweismittel argumentierte der Beschwerdeführer (Patentinhaber), dass D61 (ein Screenshot von Microsoft Outlook, aus dem die Weiterleitung der E-Mail hervorgeht) gefälscht sein könnte. Allerdings gab der Beschwerdeführer keine Inkonsistenz oder Diskrepanz in D61 an – und die Kammer konnte auch keine finden –, die eine Fälschung nahegelegt hätte. Die bloße Tatsache, dass es ein Screenshot von Microsoft Outlook war, reichte für den Schluss auf eine Fälschung nicht aus. Siehe auch den Fall T 649/20, in dem es um die Frage ging, ob D1, ein Ausdruck eines Online-Eintrags einer Wissenschaftszeitschrift, zum Stand der Technik gehörte, wobei daneben auch Druckversionen von E-Mail-Korrespondenz als Beweismittel vorgelegt wurden und D14, ein Auszug aus der öffentlichen Datenbank einer Zentralbibliothek, an sich als ausreichender Beweis betrachtet wurde; sowie T 884/18, wo unter Abwägung der Wahrscheinlichkeit Datumstempel auf Beweismitteln (Screenshots einer Internetseite) aus der Wayback Machine die öffentliche Zugänglichkeit belegten. Siehe jedoch auch T 3000/19, wo ein Screenshot eines nicht mehr verfügbaren Videos für die gerichtliche Überprüfung als unzureichend befunden wurde.
Wenn keine Indizien für eine etwaige Fälschung sprechen, ist es nicht erforderlich, Übertragungsverträge im Original vorzulegen. Die Nichtvorlage von Originalen ist als solche kein Grund für einen vernünftigen Zweifel an der Gültigkeit der Übertragung (T 2466/13, Übertragung des Prioritätsrechts).
In der Sache T 41/19 befasste sich die Kammer unter anderem mit der (unter den gegebenen Umständen geringen) Beweiskraft einer E-Mail vor dem Hintergrund einer Zeugenaussage zu einer behaupteten neuheitsschädlichen Vorbenutzung.
In T 518/10 (Übertragung der Einsprechendenstellung) hatte der Einsprechende 2 eine Kopie des Auszugs aus dem norwegischen Unternehmensregister vorgelegt, aus dem klar hervorging, dass sein Name sich infolge einer Fusion geändert hatte. Die Kammer erachtete dieses Beweismittel für ausreichend, um nachzuweisen, wer der Gesamtrechtsnachfolger des Einsprechenden 2 war. S. auch T 347/15 (zwei Auszüge aus dem Handelsregister).
In T 2220/14 legte der Einsprechende das Urteil eines US-amerikanischen Bundesbezirksgerichts vor, das das US-Patent des Beschwerdeführers betraf. Die Kammer ließ das Urteil gemäß Art. 13 (1) und (3) VOBK 2007 nicht zum Verfahren zu. Sie verwies auf die Beziehung zwischen nationalen Urteilen und dem Verfahren vor den Beschwerdekammern (Nr. 16 der Gründe) und erachtete das Dokument als nicht relevant für die im vorliegenden Fall zu behandelnden Fragen. Eine Liste der Entscheidungen der Kammern, in denen es um Beweismittel im Zusammenhang mit nationalen Verfahren geht, findet sich in Kapitel III.G.4.2.2 e).
In T 301/94 wurde ein Feststellungsprotokoll eines Gerichtsvollziehers über Champagnerflaschen als Beweismittel für eine behauptete Vorbenutzung eingereicht. Der Beweiswert derartiger amtlicher Berichte eines Gerichtsvollziehers wurde im Beschwerdestadium nicht mehr in Zweifel gezogen (vgl. T 838/92).
Im Fall T 801/98 wurden Muster von Schlössern bei einem Gerichtsvollzieher versiegelt und vom Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer präsentiert.
In T 1332/12 reichte der Beschwerdegegner (Einsprechende) als Nachweis des Stands der Technik eine Kopie einer japanischen Anmeldung D7 und eine maschinelle Übersetzung des JPO ins Englische (D7T) ein. Der Beschwerdeführer (Patentinhaber) reichte später D7JPO ein, eine seiner Ansicht nach genauere maschinelle Übersetzung von D7. Wie die Kammer erklärte, hindert das EPÜ einen Beteiligten nicht daran, eine berichtigte Übersetzung eines als Beweismittel eingereichten Dokuments einzureichen, auch wenn das Beweismittel bzw. die Übersetzung vom anderen Verfahrensbeteiligten eingereicht wurde. Dies gilt auch, wenn es sich bei dem Dokument um eine Patentanmeldung handelt (T 1332/12, zitiert in T 1968/18). Siehe auch Kapitel III.F.5. "Übersetzungen".
Zu Internet-Veröffentlichungen s. insbesondere die in diesem Kapitel angeführten Entscheidungen T 286/10 und T 2227/11.
- T 0535/21
In ex parte Fall T 535/21 Im ex parte Fall T 535/21, richtet sich die Beschwerde gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung, die Anmeldung mangels erfinderischer Tätigkeit zurückzuweisen. Die Kammer teilte der Beschwerdeführerin mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung ihre vorläufige Meinung mit, dass die Entscheidung zu bestätigen sein würde. In Reaktion darauf legte die Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer einen Auszug aus einem Dialog der Beschwerdeführerin mit dem "Microsoft Copilot" vor (Auszug als A1 bezeichnet).
Die Beschwerdeführerin und die Prüfungsabteilung waren sich darüber einig, dass sich Anspruch 1 durch drei Merkmalsgruppen von D3 unterschied. Die Beschwerdeführerin vertrat aber die Ansicht, dass die Unterscheidungsmerkmale mit D3 die synergetische Wirkung hätten, die Gerätesicherheit zu erhöhen.
Was den ersten Unterschied betrifft, hatte die Beschwerdeführerin offengelassen, in welchem Sinne ein Mikrocontroller zur Sicherheit beiträgt.
Zu dieser Frage führte die Beschwerdeführerin aus, dass Mikrocontroller als sichere Steuerung für industrielle Prozesse fungierten, und dass sie echtzeitfähig und aufgrund ihrer geringen Komplexität zuverlässig seien. Die Beschwerdeführerin bezog sich in dieser Hinsicht auf A1. In der dort dargestellten Antwort des Microsoft Copilot auf die Frage "Bewirkt ein Mikrokontroller eine höhere Sicherheit als ein Mikroprozessor oder sind sie gleich bezüglich Sicherheit", wies die Beschwerdeführerin selbst allerdings auf den Warnhinweis in A1 hin, dass "KI-generierte Inhalte [...] falsch sein" könnten.
Die Kammer bemerkte zunächst, dass die in A1 enthaltenen Aussagen per se richtig sein mochten, dass aber A1 kein geeignetes Beweismittel für diese Aussagen war. Zum einen, weil, wie A1 selbst warnte, "KI-generierte Aussagen [...] falsch sein" können. Die Aussagen hätten daher noch durch unabhängige Quellen überprüft werden müssen. Ob sich die in A1 angegebenen Quellen dafür eigneten, falls sie denn überhaupt existierten, hätte ebenfalls geprüft werden müssen. Die Kammer ließ diese Fragen offen, da der Vortrag der Beschwerdeführerin sogar dann nicht überzeugt hätte, wenn der Inhalt der A1 nicht bestritten worden wäre.
Selbst unterstellt, dass Mikrocontroller gegenüber Mikroprozessoren Sicherheitsvorteile hätten, bliebe offen, in genau welchem Sinne die Steuerung des beanspruchten Umrichters durch den verwendeten Mikrocontroller "sicherer" werde. So blieb undefiniert, welches Signal für einen Umrichter sicherheitsrelevant sei oder was im Einzelnen der Benutzer prüfen könnte oder sollte. Die behauptete Synergie war schon deshalb nicht erkennbar.
Das Vorbringen der Beschwerdeführerin reichte nicht aus, um eine Synergie der Unterschiedsmerkmale nachzuweisen. Die Kammer war weiter der Ansicht, dass die Unterschiedsmerkmale für den Fachmann ausgehend von D3 nahe lagen.