4.1. Grundsatz der freien Beweiswürdigung
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4.1. Grundsatz der freien Beweiswürdigung
Weder das EPÜ noch die Rechtsprechung der Beschwerdekammern stellt formelle Regeln zur Beweiswürdigung auf (bestätigt in G 2/21 (ABl. 2023, A85), Nr. 47 der Entscheidungsgründe, vor Berücksichtigung des Rechts der Vertragsstaaten gemäß Art. 125 EPÜ). Die Große Beschwerdekammer wies mehrfach darauf hin, dass für die Verfahren vor dem EPA der Grundsatz der freien Beweiswürdigung gilt (G 1/12, ABl. 2014, A114 unter Verweis auf G 3/97, ABl. 1999, 245, Nr. 5 der Entscheidungsgründe und G 4/97, ABl. 1999, 270, Nr. 5 der Entscheidungsgründe); bestätigt durch G 2/21 (Nr. 29 der Entscheidungsgründe). Vor dem Hintergrund, dass es sich bei dieser Entscheidung der Großen Beschwerdekammer um eine Entscheidung jüngeren Datums handelt, die weitgehend dem oben genannten Grundsatz gewidmet ist, wird in einem Unterabschnitt eigens auf die in G 2/21 formulierten und bestätigten Prinzipien eingegangen.
Die Organe des EPA sind befugt, im Einzelfall zu prüfen, ob die behaupteten Tatsachen hinreichend nachgewiesen sind. Entsprechend dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung trifft das jeweilige Organ seine Entscheidung auf der Grundlage aller im Verfahren verfügbaren Beweise und aufgrund der freien Überzeugung, zu der es in der Frage, ob eine behauptete Tatsache sich tatsächlich zugetragen hat oder nicht, gelangt ist (s. z. B. T 482/89, ABl. 1992, 646; T 592/98, T 972/02; s. auch T 838/92, wo sich die Kammer von einem Bündel genauer und übereinstimmender Elemente überzeugen ließ, dass der Verkauf einer Vorrichtung vor der Einreichung der Streitanmeldung erfolgt war). S. auch G 2/21, Nr. 34 und T 1138/20 Nr. 1.2.2 der Entscheidungsgründe.
Der im Verfahren vor dem EPA geltende Grundsatz der freien Beweiswürdigung geht nicht so weit, dass die Ablehnung eines relevanten und angemessenen Angebots eines Beweismittels gerechtfertigt werden könnte. Freie Beweiswürdigung bedeutet, dass es keine festen Regeln gibt, nach denen bestimmten Beweismitteln eine bestimmte Überzeugungskraft beigemessen oder abgesprochen wird. Aus der Sicht des angerufenen Organs ist unter Berücksichtigung aller relevanten Beweismittel zu prüfen, ob eine Tatsache als bewiesen angesehen werden kann (T 474/04, ABl. 2006, 129 unter Verweis auf G 3/97, ABl. 1999, 245, Nr. 5 der Entscheidungsgründe – s. diesbezüglich G 2/21, Nr. 34 und T 1138/20 Nr. 1.2.2 der Entscheidungsgründe zum Aspekt "Entscheidung auf der Grundlage aller im Verfahren verfügbaren relevanten Beweise"). Allerdings kann die Nichtvorlage vorhandener Beweismittel trotz einer entsprechenden Aufforderung der Kammer als Indiz dafür gewertet werden, dass die Beweismittel den behaupteten Sachverhalt möglicherweise nicht bestätigen (s. T 428/98, ABl. 2001, 494).
In T 1363/14 stellte die Kammer hinsichtlich der Weigerung, die Zeugenvernehmung anzuordnen, fest, dass das Prinzip der freien Beweiswürdigung erst nach Erhebung der Beweismittel anwendbar ist und nicht zur Rechtfertigung verwendet werden kann, angebotene Beweise nicht zu erheben. Bestätigt in G 2/21, Nr. 44 der Entscheidungsgründe, die auch T 2238/15 anführt; s. auch dieses Kapitel III.G.2.2. Ein jüngeres Beispiel für die Anwendung dieses Prinzips findet sich in T 2517/22 in Kapitel III.G.3.3.4 "Fälschliche Ablehnung des Beweisangebots".
Laut Kammer in T 1285/21 sind die Organe des EPA befugt, im Einzelfall zu prüfen, ob die behaupteten Tatsachen hinreichend nachgewiesen sind. Entsprechend dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung trifft das jeweilige Organ seine Entscheidung auf der Grundlage aller im Verfahren verfügbaren Beweise und aufgrund der freien Überzeugung, zu der es in der Frage, ob eine behauptete Tatsache sich tatsächlich zugetragen hat oder nicht, gelangt ist.
In J 14/19 (Aussetzung des Verfahrens) erklärte die Kammer, dass dem EPA bei der Entscheidung über eine Aussetzung nach R. 14 (1) EPÜ kein Ermessen zukommt. Weist ein Dritter das Vorliegen der in R. 14 (1) EPÜ genannten Voraussetzungen rechtzeitig nach, muss das Erteilungsverfahren ausgesetzt werden. Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob die tatsächlichen Voraussetzungen für die Aussetzung nach R. 14 (1) EPÜ erfüllt sind oder nicht. Dabei handelt es sich um keine Frage des Ermessens, sondern um eine Frage der Beweiswürdigung. Bei dieser verschafft sich das Entscheidungsorgan anhand der Beweismittel eine Überzeugung von der Richtigkeit der behaupteten Tatsachen (s. G 1/12, ABl. 2014, A114). Steht eine entscheidungserhebliche Tatsache nach Ansicht des Entscheidungsorgans nicht fest, kann es gemäß Art. 114 (1) EPÜ die Vorlage von weiteren Beweismitteln anordnen.
- T 1249/22
In T 1249/22 the application related to the development – including the training – of an analytical model (e.g. a machine learning model) and the deployment of the trained analytical model on a "compute engine" so as to process live incoming data. The examining division found that the independent claims of the main request lacked an inventive step in view of common general knowledge evidenced by D5.
D5 was a book comprising a collection of individual papers on grid computing, all from different groups of authors, referred to as "chapters" by the editors of the book. The appellant argued that D5 was not evidence of common general knowledge and that each of the chapters of D5 represented a separate piece of prior art; the examining division combined several distinct elements from these chapters without providing any reasoning. The board agreed with the appellant that each of the "chapters" represented a separate piece of prior art, as they appeared to be self-contained papers which did not build on each other, unlike chapters of a textbook. Definitions given in one of these papers did not necessarily apply to the others. D5 rather resembled a conference proceedings volume including a collection of separate papers on a common topic. The mere fact that the papers were published in the same book with a single ISBN did not imply that the whole content of the book formed a single piece of prior art.
As to whether D5, or its individual chapters, were generally suitable as evidence for common general knowledge, the board noted that an allegation that a teaching was common general knowledge might be supported by specific evidence. The deciding body evaluates such evidence by applying the principle of free evaluation of evidence on a case-by-case basis (G 2/21). The board explained that while it might be relevant that the cited evidence was a "book" or a "textbook", this could not, on its own, be decisive, as no firm rules dictate which types of evidence are convincing.
The board further observed that information often appears in a textbook because it was common general knowledge when the book was drafted. However, this did not mean that all textbook content necessarily was common general knowledge or became so upon publication. In the decision under appeal, the examining division referred to Part G, Chapter VII, 3.1 of the Guidelines, in which it was stated that "[i]nformation does not become common general knowledge because it has been published in a particular textbook, reference work, etc.; on the contrary, it appears in books of this kind because it is already common general knowledge (see T 766/91). This means that the information in such a publication must have already become part of common general knowledge some time before the date of publication". The board noted however, that the cited decision T 766/91 only described what is "normally" accepted and what is "usually" the case. In a statement according to Art. 20(2) RPBA, the board explained that the Guidelines had lost this nuance when saying "must" in the passage cited above.
Regarding the examining division's reliance on chapters of D5 as evidence of alleged common general knowledge, the board considered the examining division's reasoning to be insufficient regarding what alleged common general knowledge it was relying on (R. 111(2) EPC). For instance, the examining division referred merely to the "known paradigm of message-based grid computing" without indicating which features of this paradigm were considered to be common general knowledge, despite appearing to rely on more than the knowledge of the existence of that paradigm when considering that all the features relating to the processing pipeline "form part of the common general knowledge of the skilled person".
Thus, the board concluded that the first-instance decision was not sufficiently reasoned within the meaning of R. 111(2) EPC. The case was remitted to the examining division for further prosecution under Art. 111(1), second sentence, EPC and Art. 11 RPBA and the appeal fee was reimbursed under R. 103(1)(a) EPC.