4.2. Fallweise Beurteilung der Beweiskraft
4.2.1 Rangfolge der Beweismittel
In der neueren Entscheidung T 1138/20 befand die Kammer, dass Beweismittel im Einklang mit dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung zu bewerten sind, was auch bedeute, dass die in Art. 117 EPÜ aufgelisteten Beweismittel in keiner Rangfolge aufgeführt sind. So geht T 1138/20 überaus ausführlich auf die Grundsätze des Beweisrechts ein (größtenteils unter Verweis auf die bisherige Rechtsprechung) und wendet sie in der ebenso detaillierten Begründung auf den vorliegenden Fall an, wobei die Konsequenzen der Gleichstellung von Beweismitteln ohne Rangfolge aufgezeigt werden. Die Kammer sah den Vorwurf, dass die Einspruchsabteilung den Zeugenaussagen mehr Beweiswert als den vorgelegten schriftlichen Beweismitteln zugeschrieben hatte, an sich nicht als ausreichend an, um die Tatsachenfeststellung der Einspruchsabteilung aufzuheben. Die höhere Gewichtung einer Zeugenaussage gegenüber vorgelegten schriftlichen Beweismitteln könne nicht allgemein als Fehler betrachtet werden. Allein die Tatsache, dass die Einspruchsabteilung eine Tatsache durch die Zeugenaussage als bestätigt und damit bewiesen angesehen hatte, obwohl die schriftlichen Beweismittel der Akte nicht ausreichten, um diese Tatsache zu belegen, bzw. der Zeugenaussage sogar widersprachen, bedeute nicht, dass die Beweismittel fehlerhaft gewürdigt worden waren. Siehe auch Nr. 1.2.3 der Entscheidungsgründe zum Inhalt der Begründung im Falle widersprüchlicher Beweismittel.
In T 2659/17 hatte die Kammer (mit Verweis auf T 474/04) erläutert, eine Versicherung an Eides statt habe eine geringere Beweiskraft als eine Zeugenaussage. Die Kammer befand, dass daher eine Entscheidung nicht auf der Versicherung an Eides statt allein beruhen soll, sondern die Person, die die Erklärung abgegeben hat, als Zeuge zu vernehmen ist, sofern der Beteiligte dies anbietet. Dies galt im Fall T 2659/17 umso mehr, als der Inhalt der Versicherungen an Eides statt vom Inhaber infrage gestellt wurde und eine Zeugeneinvernahme der angebotenen Zeugen eingefordert wurde. Durch die Verwehrung der Zeugenbefragung wurde der Inhaber darin behindert, das letztlich entscheidende Beweismittel zu entkräften. Dies war umso gravierender, da Beweismittel für die Vorbenutzung weitgehend der Verfügungsmacht und dem Wissen des Einsprechenden unterlagen (Verletzung von Art. 113 (1) EPÜ). S. auch T 329/02 in diesem Kapitel III.G.3.3.4 Vergleiche mit T 1604/22 zum von der Kammer anerkannten Beweiswert eidesstattlicher Versicherungen, wobei die Zeugen in diesem Fall allerdings in erster Instanz (per Videokonferenz) angehört worden waren.
In T 918/11 erachtete die Kammer den bloßen Verweis darauf, dass die Zeugenaussagen B1 und B2 mindestens 14 Jahre zurückliegende Tatsachen betrafen und es andere schriftliche Beweismittel geben könnte, für nicht ausreichend, um die Zeugenaussagen als unzulänglich abzulehnen. Der Kammer zufolge widerspricht es den allgemeinen Regeln der Beweiswürdigung, dogmatisch zwischen dem Beweiswert einer Zeugenaussage auf der einen und dem Beweiswert eines Dokuments auf der anderen Seite zu unterscheiden. Offenbar hatte die Einspruchsabteilung Dokumenten einen höheren Beweiswert zugeschrieben als Zeugen. Für diesen Ansatz gibt es jedoch im EPÜ keine Grundlage, da die Beweismittel in Art. 117 EPÜ in keiner Rangfolge aufgeführt sind (zur fehlenden Rangfolge zwischen Zeugenaussagen und Dokumenten s. auch T 2565/11).
Siehe auch in diesem Kapitel III.G.2.4.1 d) und III.G.2.5.4.