5.1.2 Einzelfälle
Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern setzt ein erfolgreicher Offenbarungseinwand voraus, dass es ernsthafte, durch überprüfbare Tatsachen untermauerte Zweifel gibt (T 19/90). In Inter-partes-Verfahren liegt die Beweispflicht zunächst beim Einsprechenden, der nach Abwägen der Wahrscheinlichkeit nachzuweisen hat, dass eine Fachperson, die die Patentschrift liest, unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens die Erfindung nicht ausführen könnte. Der Grund dafür ist, dass generell davon auszugehen ist, dass sich das Patent auf eine ausreichend offenbarte Erfindung bezieht. Hat der Einsprechende seiner Beweispflicht genügt, so trägt der Patentinhaber, der die überzeugend belegten Tatsachen durch Gegenargumente zu entkräften versucht, für diese die Beweislast.
Die Entscheidungen T 19/90 und T 63/06 werden häufig in der – auch jüngeren – Rechtsprechung zitiert. Die Entscheidung T 1076/21 wiederum konkretisiert den Rahmen der Beweislast insbesondere im Beschwerdeverfahren nach dem Widerruf des Patents durch die Einspruchsabteilung (s. Orientierungssatz). Zudem befasst sie sich mit der Verbindung von starker bzw. schwacher Vermutung und den Konsequenzen hinsichtlich der vom Einsprechenden beizubringenden Beweiselemente, um der anfänglichen Beweislast zu genügen. Darüber hinaus ging es in T 1076/21 auch um die Frage unüblicher Parameter. Zu Entscheidungen bei fortbestehenden Zweifeln siehe die Entscheidung T 72/04, deren Grundsätze in T 1076/21 angewandt wurden.
Die Beweispflicht richtet sich nach dem Vorbringen der jeweiligen Beteiligten. Ob die Anforderungen an die Beweispflicht erfüllt sind oder nicht, wird von der Kammer auf der Grundlage der ihr vorliegenden relevanten Beweismittel überprüft. Die Beweislast für die unzureichende Offenbarung liegt in der Regel bei den Einsprechenden, die nachweisen müssen, dass sie trotz aller angemessenen Maßnahmen nicht in der Lage waren, die Erfindung auszuführen. Wenn der Patentinhaber ein Ergebnis beansprucht, das nach der vorherrschenden technischen Meinung nicht erzielbar ist, und die Einsprechenden nicht in der Lage sind, das patentgemäße Verfahren nachzuarbeiten, kann von ihnen nicht erwartet werden, dass sie mehr unternehmen als der Patentinhaber. Dann trägt der Patentinhaber die Beweislast dafür, dass das patentgemäße Extraktionsverfahren wie angegeben funktioniert, sodass der Fachperson zumindest ein Weg zur Ausführung der beanspruchten Erfindung an die Hand gegeben wurde (Formulierung und Bestätigung dieser fünf Grundsätze in T 518/10 (Erfindung entgegen der vorherrschenden technischen Meinung, dass bestimmte Verbindungen nur in Obst, Gemüse oder Algen auftreten – hier aus maritimer bzw. aquatischer Biomasse gewonnen), wo auch T 792/00 (ebenfalls betreffend eine Erfindung entgegen der vorherrschenden technischen Meinung) und T 1842/06 (Gedächtniseffekt von Wasser) zitiert wurden).
In T 1608/13 argumentierte der Beschwerdegegner (Einsprechende) unter Verweis auf T 585/92, nachdem die Einspruchsabteilung das Patent widerrufen hatte, sei im Beschwerdeverfahren die Beweislast für den Nachweis, dass die Entscheidung falsch war, auf den Beschwerdeführer übergegangen. Das vorrangige Ziel des Beschwerdeverfahrens ist jedoch, die angefochtene Entscheidung auf der Grundlage der Eingaben und Anträge der Beteiligten zu überprüfen. Dazu gehört ganz klar die Überprüfung der Argumentation der Einspruchsabteilung, insbesondere die Beurteilung der in der Entscheidung berücksichtigten Einwände des Beschwerdegegners. Wenn die Argumentation als solche für falsch befunden wird, kann sich die Beweislast in der Sache nicht umkehren. Auf diese Entscheidung verweist T 1076/21, um den Mechanismus der Beweislastumkehr im Beschwerdeverfahren auf den Patentinhaber zu verdeutlichen, die nicht nur vom bloßen Vorliegen der Entscheidung der Einspruchsabteilung über den Widerruf des Patents abhängen kann (T 1076/21, Nr. 1.1.3 der Gründe; s. für eine ausführlichere Zusammenfassung Kapitel II.C.9.1.).
Die Entscheidung T 1886/12 enthält auch eine eingehende Begründung zur Frage der Beweislast bei angeblich unzureichender Offenbarung; der Beschwerdeführer (Einsprechender) hatte mehrere Einwände erhoben, konnte aber der ihm obliegenden Beweislast nicht nachkommen.
In T 1889/15 lag eine starke Vermutung bezüglich der gegebenen Ausführbarkeit des Patents vor, sodass demnach für den Beschwerdegegner (Einsprechenden) ein hoher Beweismaßstab anzulegen war, um das Gegenteil zu beweisen, etwa in Form von Vergleichsversuchen, die zeigen sollten, dass eine Befolgung der Lehre des Patents nicht verlässlich zum definierten ESCR-Index führte. Der Beschwerdegegner lieferte jedoch weder ausführliche Argumente noch überprüfbare Beweise, etwa in Form experimenteller Ergebnisse, die Mängel in der Beschreibung aufgezeigt hätten, sondern verwies lediglich auf zwei unzureichende Beispiele.
In T 275/16 erinnerte die Kammer daran, dass die Beweislast für die unzureichende Offenbarung in der Regel beim Einsprechenden liegt. Bei einer Erfindung jedoch, die der vorherrschenden technischen Meinung entgegensteht, muss der Patentinhaber nachweisen, dass die Erfindung ausreichend offenbart ist (T 792/00, Nrn. 3 bis 5 der Gründe; T 1842/06, Nr. 3.4 der Gründe; T 518/10, Nr. 7.10.1 der Gründe; vgl. T 419/12, Nr. 1.1.4 (6) der Gründe). Im vorliegenden Fall lautete die vorherrschende technische Meinung, dass es kein Verfahren gibt, das die Herstellung von Titandioxidteilchen in einer Gasphasenreaktion erlauben würde, wobei alle Teilchen denselben Durchmesser haben, d. h. eine monodisperse Teilchengrößenverteilung vorliegt. Das Patent enthielt außerdem keine Daten für den strittigen Dtop/D50-Wert von 1. Es war Aufgabe des Patentinhabers (Beschwerdeführers), zu zeigen, dass man mittels des im Streitpatent offenbarten Verfahrens zu dem ausdrücklich beanspruchten Wert von 1 für das Verhältnis von Dtop (maximaler Teilchendurchmesser) zu D50 (mittlerer Teilchendurchmesser) gelangen kann. Die Kammer befand, dass dem Erfordernis der ausreichenden Offenbarung selbst dann nicht entsprochen wurde, wenn man von einer zum Verständnis bereiten Fachperson ausging (vgl. T 190/99).
In T 298/17 brachte der Beschwerdeführer (Patentinhaber) vor, dass es den Beschwerdegegnern (Einsprechenden) obliege nachzuweisen, dass die beanspruchten Emulsionen nicht herstellbar seien, und dass die Beschwerdegegner keine entsprechenden Beweismittel vorgelegt hätten. Unter Berufung auf G 9/91 und T 1003/96 argumentierte er, dass in der Frage der ausreichenden Offenbarung im Zweifel zugunsten des Patentinhabers zu entscheiden sei. Die Kammer erklärte, es sei allgemein anerkannt, dass die Beweislast in Bezug auf die ausreichende Offenbarung bei den Einsprechenden liegt. Der Beschwerdeführer hatte jedoch eine Tatsache eingeräumt, und Tatsachen, die von ihm nicht bestritten werden, müssen die Beschwerdegegner nicht nachweisen (unbestrittene Tatsache).
In der Sache T 2119/14 argumentierte der Beschwerdeführer (Patentinhaber), die Einsprechenden hätten den unzumutbaren Aufwand für die Fachperson nachzuweisen. Nach Auffassung der Kammer, die ausführlich auf die Beweislast einging, hängt beim Einspruchsgrund der unzureichenden Offenbarung die Frage, wie gewichtig die Vorbringen sein müssen, um die Rechtsvermutung zu widerlegen, dass das Patent diesem EPÜ-Erfordernis genügt, davon ab, wie stark diese Rechtsvermutung ist (s. T 63/06). Eine starke Vermutung erfordert ein substantielleres Vorbringen als eine schwache Vermutung. Im vorliegenden Fall ergab sich der unzumutbare Aufwand durch die nahezu unendliche Zahl der unter die strukturelle Definition des Anspruchs 1 fallenden Beschichtungszusammensetzungen und dem Fehlen einer Lehre im Patent, wie der ungewöhnlichen Anforderung an die Parameter zu genügen sei. Damit lag die Beweislast beim Patentinhaber (Beschwerdeführer) zu zeigen, dass dazu kein unzumutbarer Aufwand erforderlich war.
In T 2218/16 (Gentherapie) befand die Kammer, dass die – weit über eine bloße Erklärung hinausgehende – technische Lehre des Patents alles in allem eine starke Vermutung der Eignung nahelegte, sodass die Beweislast beim Beschwerdeführer (Einsprechenden) lag. Da zudem das Vorbringen der Beschwerdeführer zur unzureichenden Offenbarung nicht durch Beweismittel, d. h. überprüfbare Tatsachen, gestützt war, war die Beweislast nicht auf den Beschwerdegegner (Patentinhaber) übergegangen. In der Entscheidung T 2218/16 werden die für die Beweislast im Fall einer angeblich unzureichenden Offenbarung geltenden Grundsätze zusammengefasst.
In T 2340/12 war in Bezug auf die Beweislast unbestritten, dass das Organ, das den Einwand der unzureichenden Offenbarung erhoben hat, seine Meinung begründen muss. Im Ex-parte-Verfahren ist es somit Aufgabe der Prüfungsabteilung oder der Beschwerdekammer, den erhobenen Einwand zu begründen. Ein solcher Einwand sollte auf konkretem und nachprüfbarem Wissen oder auf Tatsachen basieren, die den Realitätsgehalt der durch die beanspruchte Erfindung erzeugten Wirkung infrage stellen. Ein Mangel an Glaubwürdigkeit kann sich zum Beispiel aus einem Konflikt mit den anerkannten Gesetzen der Physik ergeben. Es ist dann Aufgabe des Anmelders (Beschwerdeführers), entsprechende Argumente oder Beweismittel vorzulegen. Die Kammer merkte an, dass die Einreichung von Versuchen nicht als Verpflichtung des Anmelders, sondern vielmehr als Recht des Anmelders und Gelegenheit zu sehen ist, die Prüfungsabteilung (oder die Kammer) zu überzeugen, dass sie sich bei ihrem ursprünglichen Urteil geirrt hat. Im vorliegenden Fall betraf die Erfindung Gebiete der Technik ohne anerkannte theoretische oder praktische Grundlage. Entscheidung jüngst zitiert in T 2020/22.
In T 2571/12 war die Kammer nicht mit den Schlussfolgerungen der Einspruchsabteilung einverstanden, wonach – weil der Einsprechende keinen Nachweis dafür erbracht habe, dass eine neuropsychiatrische Störung nicht wirksam mit einem Glutathionvorläufer behandelt werden könne – das Streitpatent die Erfindung so deutlich und vollständig offenbare, dass eine Fachperson sie ausführen könne. Vielmehr muss – so die Kammer – in dem Patent nachgewiesen werden, dass die beanspruchte Behandlung für die beanspruchte therapeutische Indikation geeignet ist.
In T 417/13 wurde entschieden, dass physikalische und mathematische Fakten über Teilchengrößenmessung bekannt sind. Es bestand daher keine Notwendigkeit, über eingereichte Dokumente zu diskutieren, die zum Nachweis der relevanten Tatsachen eingereicht worden waren.
Die Sache T 2437/13 ist ein Beispiel dafür, wie die Kammern eine nicht belegte Behauptung des beweispflichtigen Einsprechenden behandeln. Siehe auch den Fall T 1727/12 hinsichtlich Art. 100 b) EPÜ, in dem die Kammer daran erinnerte, dass die Einspruchsabteilung die Beweislast trägt für Einwände, die sie von Amts wegen gemäß einem Einspruchsgrund erhebt, der nicht von der Einspruchsschrift gedeckt ist, oder für neue Argumente zu einem von der Einspruchsschrift gedeckten Einspruchsgrund (mit Verweis auf Art. 114 (1) EPÜ und G 9/91, ABl. 1993, 408, Nr. 16 der Gründe).
S. auch Kapitel II.C.9. "Beweisfragen"; T 63/06 (Zusammenfassung seines Beitrags z. B in T 347/15, T 1076/21), T 338/10 und T 967/09 in diesem Kapitel III.G.5.2.2.