2. Das Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge
2.2. Auslegung nach dem Wiener Übereinkommen
Nach der ständigen Rechtsprechung sind bei der Auslegung des EPÜ die in den Art. 31 und 32 Wiener Übereinkommen enthaltenen Auslegungsgrundsätze anzuwenden. Diese Grundsätze wurden von der Großen Beschwerdekammer und den Beschwerdekammern gleichermaßen anerkannt und angewandt (G 1/83; G 2/02 und G 3/02; G 2/08 date: 2010-02-19, ABl. 2010, 456; G 2/12, G 2/13; G 3/14, ABl. 2015, A102; G 1/16, ABl. 2018, A70; G 1/18, ABl. 2020, A26; G 3/19, ABl. 2020, A11; J 10/98, ABl. 2003, 184; T 128/82, ABl. 1984, 164; T 1173/97, ABl. 1999, 609; T 1807/15 (ABl. 2021, A92), J 12/18; J 7/21; T 695/18). In G 2/08 date: 2010-02-19 hat die Große Beschwerdekammer festgestellt, dass sich aus den Art. 31 und 32 Wiener Übereinkommen ergibt, dass ein Vertrag (hier das EPÜ) zuerst in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen ist, was bedeutet, dass der Richter von klaren Rechtsbestimmungen nicht abweichen darf; dieser Grundsatz betrifft das Erfordernis des guten Glaubens. Aus Art. 32 Wiener Übereinkommen geht ferner hervor, dass vorbereitende Dokumente primär heranzuziehen sind, um eine Bedeutung zu bestätigen oder eine Bedeutung zu bestimmen, wenn die ersten, gewöhnlichen Auslegungsmittel zu einem mehrdeutigen oder sinnwidrigen Ergebnis führen würden (s. auch G 1/07 vom 15. Februar 2010 date: 2010-02-15, ABl. 2011, 134, Nr. 3.1 der Gründe; G 1/18, Nr. III. der Gründe).
Der Großen Beschwerdekammer in G 2/12 und G 2/13 (ABl. 2016, A27 und ABl. 2016, A28) zufolge zielt diese objektive Auslegungsweise insgesamt darauf ab, die "authentische" Bedeutung der betreffenden Vorschrift und ihrer Rechtsbegriffe zu ermitteln. Ausgangspunkt der Auslegung ist somit unabhängig vom ursprünglichen "subjektiven" Willen der Vertragsparteien der Wortlaut, d. h. die "objektive" Bedeutung. Dabei müssen die Vorschriften in ihrem Zusammenhang gelesen werden, damit sie mit Ziel und Zweck des EPÜ übereinstimmen.