3.5. Umfang der Überprüfung durch die Große Beschwerdekammer
3.5.2 Erschöpfende Aufzählung der Überprüfungsgründe
Die Gründe, auf die ein Überprüfungsantrag gestützt werden kann, hat der Gesetzgeber erschöpfend aufgezählt, nämlich in Art. 112a (2) EPÜ in Verbindung mit R. 104 EPÜ (R 1/08; s. auch R 10/09, R 14/09, R 16/09, R 17/09, R 18/09, R 20/09, R 20/10, R 6/11, R 13/11, R 19/11, R 20/11, R 2/12 vom 17. Oktober 2012 date: 2012-10-17, R 18/12, R 4/13, R 5/13, R 5/14, R 7/14, R 9/14, R 6/15, R 3/16, R 14/22, R 20/22). Nicht in der Ausführungsordnung genannte Rechtsverletzungen gelten nicht als Verfahrensmängel im Sinne des Art. 112a (2) d) EPÜ (R 16/09, R 10/20, R 12/22).
Die fehlerhafte Anwendung einer Verfahrensvorschrift, welche selbst nicht zu den im EPÜ aufgezählten Überprüfungsgründen gehört, kann nur überprüft werden, wenn sie einen der in Art. 112a (2) EPÜ in Verbindung mit R. 104 EPÜ aufgezählten Verfahrensmängel zur Folge hat (R 2/08, R 20/10, R 18/12). In R 8/16 wies die Große Beschwerdekammer darauf hin, dass Art. 125 EPÜ ausdrücklich festlegt, dass diese Vorschrift nur Anwendung findet, soweit das EPÜ Vorschriften über das Verfahren nicht enthält, und stellte fest, dass sie daher nicht als Grundlage zur Erweiterung des Geltungsbereichs von Art. 112a EPÜ dienen könne.
Insbesondere können folgende Punkte nicht Gegenstand des Überprüfungsverfahrens sein:
– Anträge betreffend die Auslegung der VOBK (R 2/23)
– die angeblich unzureichende Begründung (R 6/11; s. auch R 1/08, R 19/11, R 5/13, R 1/15, R 8/15, R 7/16, R 4/20, R 10/20, R 8/23), sofern sie keinen schwerwiegenden Verstoß gegen Art. 113 EPÜ darstellt
– unlogische und widersprüchliche Begründungen (R 10/20)
– das angebliche Versäumnis, der Entscheidung eine Rechtsmittelbelehrung beizufügen (R 3/21)
– ein angeblicher Verstoß gegen Art. 114 EPÜ in Verbindung mit R. 116 (1) und (2) EPÜ oder R. 101 EPÜ und R. 99 (2) EPÜ (R 14/09)
– die Weigerung, die Aufzeichnung der mündlichen Verhandlung zu gestatten, die Verwendung einer anderen, gleichbedeutenden Terminologie statt der im EPÜ verwendeten in der mündlichen Verhandlung oder die unterbliebene Validierung der Niederschrift am Schluss der mündlichen Verhandlung (R 17/09)
– die angeblich mangelhafte Führung des Verhandlungsprotokolls, die angebliche Unzuständigkeit für die Entscheidung über den Ausschluss von der Akteneinsicht oder das angebliche Nichtverstehen des Vorbringens eines Beteiligten (R 20/09, R 7/17)
– die angebliche Verletzung des Art. 6 EMRK (R 18/09, R 1/16), sofern sie nicht mit einem schwerwiegenden Verstoß gegen Art. 113 EPÜ einhergeht (s. G 3/08 date: 2010-05-12, ABl. 2011, 10 zur allgemeinen Geltung prozessualer Grundrechte in Verfahren vor dem EPA)
– die angebliche Verletzung des Vertrauensschutzes (R 13/11, R 1/16)
– die angeblich fehlerhafte Umkehr der Beweislast (R 21/10, R 1/20)
– der angeblich völlig irrationale Charakter der Entscheidung ("Wednesbury unreasonableness", R 19/11)
– die angeblich unzureichende Zeit, die für die mündliche Verhandlung eingeräumt wurde (R 2/12 date: 2012-10-17)
– die angebliche Verletzung des rechtlichen Gehörs in Bezug auf einen anderen Beteiligten (R 5/14)
– das angeblich mangelnde technische Verständnis eines Kammermitglieds, sodass die Kammer nicht wie in Art. 21 (4) a) EPÜ vorgeschrieben mit zwei "technisch qualifizierten Mitgliedern" besetzt gewesen sei (R 3/12)
– ein angeblicher Verstoß gegen Art. 4 (3) EPÜ oder gegen Art. 11 VOBK 2007, Art. 15 (4) VOBK 2007 und Art. 20 VOBK 2007 (R 9/14).
– ein angeblicher Verstoß gegen Art. 15 (5) und 15 (6) VOBK 2007, sofern er nicht mit einem schwerwiegenden Verstoß gegen Art. 113 EPÜ einhergeht und sofern kein schwerwiegender Verfahrensmangel nach Art. 112a (2) d) EPÜ in Verbindung mit R. 104 b) EPÜ vorliegt (R 7/14; s. auch R 10/08)
– ein angeblicher Verstoß gegen Art. 20 (1) VOBK 2007 (R 7/13)
– ein angeblicher Verstoß gegen Art. 114 EPÜ, Art. 13 VOBK 2007 oder mangelnde Unparteilichkeit (R 10/14)
– ein angeblicher Verstoß gegen den Grundsatz der Verfahrensökonomie (R 1/16)
– eine möglicherweise fehlerhafte Anwendung einer Regel aus der VOBK 2007, außer wenn nachgewiesen wird, dass aus diesem Fehler ein schwerwiegender Verfahrensverstoß im Sinne von Art. 112a (2) EPÜ (R 3/17) hervorgeht.
Regel 106 EPÜ impliziert, dass nur Verfahrensmängel, die einer Beschwerdekammer zuzurechnen sind, nach Art. 112a EPÜ überprüft werden können. Verfahrensmängel im erstinstanzlichen Verfahren können daher nicht Gegenstand eines Überprüfungsantrags sein (R 20/10, R 8/11; s. auch R 19/12 vom 12. April 2016 date: 2016-04-12, R 3/16).
- R 0007/22
Der Antrag auf Überprüfung in R 7/22 wurde darauf gestützt, dass die zu überprüfende Entscheidung in mehrfacher Hinsicht mit einem schwerwiegenden Verfahrensmangel behaftet sei, und – ebenfalls in mehrfacher Hinsicht – ein schwerwiegender Verstoß gegen Art. 113 EPÜ vorliege.
Bei der Prüfung der Begründetheit des Überprüfungsantrags bezüglich der geltend gemachten Verfahrensmängel gemäß Art. 112a (2) d) EPÜ erinnerte die Große Beschwerdekammer (GBK) daran, dass die in R. 104 EPÜ nicht genannten Verfahrensmängel nicht als schwerwiegende Verfahrensmängel im Sinne des Art. 112a (2) d) EPÜ gelten. Die Antragstellerin hatte sich aber weder auf das Übergehen eines Antrags auf mündliche Verhandlung (R. 104 a) EPÜ) noch eines sonstigen relevanten Antrags im Verfahren (R. 104 b) EPÜ) berufen. Dementsprechend betrachtete die GBK den Überprüfungsantrag bezüglich dieser geltend gemachten Verfahrensmängel als offensichtlich unbegründet.
Im Rahmen der Prüfung der Begründetheit des Überprüfungsantrags im Hinblick auf die geltend gemachten Verfahrensmängel nach Art. 112a (2) c) EPÜ befasste sich die GBK mit den beanstandeten Verstößen gegen Art. 113 (1) EPÜ im Zusammenhang mit der angekündigten mündlichen Verhandlung in Präsenz und derer tatsächlicher Durchführung als Videokonferenz. Dabei betonte die GBK unter anderem Folgendes:
In G 1/21 hat die GBK entschieden, dass die Durchführung einer mündlichen Verhandlung als Videokonferenz grundsätzlich mit dem Recht auf rechtliches Gehör vereinbar ist, und in R 12/22 hat die GBK das ausführlich dargestellt. Im vorliegenden Fall hatte die Antragstellerin sich darauf beschränkt zu rügen, die im Fall G 1/21 gesetzten, sehr engen Voraussetzungen für die Durchführung einer mündlichen Verhandlung als Videokonferenz hätten nicht vorgelegen. Sie hatte keine konkreten Umstände behauptet, wodurch ihr die Ausübung ihres Rechts auf rechtliches Gehör im Beschwerdeverfahren verweigert wurde. Für die GBK waren auch keine derartigen Umstände ersichtlich. Eine allgemeine Beanstandung zu Beginn der Verhandlung, die Voraussetzungen für die Durchführung der mündlichen Verhandlung als Videokonferenz seien nicht gegeben, genügt aus den vorgenannten Gründen (wonach eine mündliche Verhandlung in Form einer Videokonferenz grundsätzlich mit dem Recht auf rechtliches Gehör vereinbar ist) nicht. Damit liegt in der Durchführung der mündlichen Verhandlung als Videokonferenz offensichtlich kein Gehörsverstoß.
Darüber hinaus befand die GBK, dass anders als im Falle der Ermessensausübung beim Thema Zulassung, eine unzutreffende Ermessensausübung zugunsten der Durchführung einer mündlichen Verhandlung als Videokonferenz mangels Einfluss auf das Recht auf rechtliches Gehör keinen Verstoß gegen dieses Recht begründen kann, wenn – wie hier – ein konkreter Mangel der Videokonferenz während derselben nicht behauptet worden war. Die Beteiligten waren im Übrigen zur Frage der Durchführung der mündlichen Verhandlung als Videokonferenz gehört worden, so dass auch insofern kein Gehörsverstoß vorlag.
In Bezug auf die durch die Antragstellerin geltend gemachten Mängel in der Begründung der zu überprüfenden Entscheidung verwies die GBK auf die in R 3/15, R 8/15, R 8/19, R 10/20 und R 12/22 formulierten relevanten Grundprinzipien. Sie erinnerte unter anderem daran, dass eine widersprüchliche Begründung nur dann beanstandet werden kann, wenn die Widersprüche gleichbedeutend damit sind, dass die Kammer das Vorbringen in den Entscheidungsgründen nicht behandelt und dieses objektiv betrachtet entscheidend für den Ausgang des Falles war. Ebenso wie die objektiv entscheidende Bedeutung für den Ausgang des Falles sich aufdrängen muss, muss sich auch aufdrängen, dass die widersprüchliche Begründung gleichbedeutend ist mit einer Nicht-Begründung, indem sie beispielsweise völlig konfus ist (R 12/22).
Zum Argument der Antragstellerin, die Begründungsmängel seien für den Fachmann augenfällig, befand die GBK, dass es sich bei der relevanten Person, der eklatante Begründungsmängel ins Auge springen müssen, um den Durchschnittsleser und nicht den Fachmann handelt.
Der Antrag auf Überprüfung wurde teilweise als offensichtlich unzulässig und im Übrigen als offensichtlich unbegründet verworfen.