3.5. Umfang der Überprüfung durch die Große Beschwerdekammer
3.5.3 Keine aufschiebende Wirkung – Überprüfung des materiellen Rechts ausgeschlossen
Artikel 112a (3) EPÜ stellt klar, dass der Überprüfungsantrag ein außerordentlicher Rechtsbehelf ist, dessen Einlegung die Rechtskraft der angefochtenen Entscheidung nicht berührt. Implizit heißt dies, dass ein erfolgreicher Überprüfungsantrag zu einer Entscheidung der Großen Beschwerdekammer führt, die die Beschwerdekammer-entscheidung aufhebt, d. h. deren Rechtskraft durchbricht, und zur Wiedereröffnung des Beschwerdeverfahrens (Erläuterungen in ABl. SA 4/2007, 146). Die Entscheidungen der Beschwerdekammern müssen rechtskräftige Entscheidungen sein (CA/PL 17/00 vom 27. März 2000, Punkt 5; s. auch R 1/08).
Der Überprüfungsantrag darf keinesfalls dazu instrumentalisiert werden, die Anwendung des materiellen Rechts überprüfen zu lassen. Diese Einschränkung ist gerechtfertigt, weil die Funktion des Überprüfungsantrags darin besteht, nicht hinnehmbare Fehler in einzelnen Beschwerdeverfahren zu beseitigen, und nicht darin, die Verfahrenspraxis vor dem EPA weiterzuentwickeln oder eine einheitliche Rechtsanwendung zu sichern (Erläuterungen in ABl. SA 4/2007, 144; R 13/10: ständige Rechtsprechung seit R 1/08). Die Große Beschwerdekammer ist gemäß Art. 112a EPÜ nicht befugt, die Entscheidung in der Sache zu prüfen und im Überprüfungsverfahren inhaltlich auf einen Fall einzugehen (R 4/09, R 13/10, R 5/15, R 7/17, R 3/21, R 11/21, R 15/21, R 12/20), und sei es auch nur mittelbar (R 19/11, R 6/13, R 3/18, R 24/22). Mit der Überprüfung der korrekten Anwendung des materiellen Rechts würde die Große Beschwerdekammer zu einer dritten Instanz, was ausdrücklich ausgeschlossen wurde (R 3/09; s. auch R 13/09, R 3/18). Der Zweck des Überprüfungsverfahrens besteht nicht darin zu beurteilen, ob die von der Kammer angegebenen Gründe angemessen sind oder nicht (R 13/14, R 2/18, R 12/22); die Große Beschwerdekammer kann die sachliche Beurteilung einer Kammer nicht durch ihre eigene ersetzen (R 9/14). Die Große Beschwerdekammer kann im Überprüfungsverfahren nicht als eine dritte Instanz bzw. als ein übergeordnetes Berufungsgericht fungieren (R 9/10, R 11/11, R 5/13; s. auch R 1/08, R 3/09, R 13/09, R 3/18).
Die fehlende Zuständigkeit der Großen Beschwerdekammer, in der Sache zu entscheiden, bringt zwangsläufig mit sich, dass sie nicht befugt ist, den normalen Gebrauch, den eine Kammer von ihrem Ermessen macht, zu überprüfen (R 10/09, s. auch R 6/17 und R 4/22). Die Ermessensausübung unterliegt der Überprüfung nur, wenn sie willkürlich oder offensichtlich rechtswidrig ist (R 10/11, R 13/21, R 12/22, R 24/22) und damit eine schwerwiegende Verletzung des rechtlichen Gehörs vorliegt (R 9/11; s. auch R 17/11, R 6/20, R 7/21, R 4/22, R 24/22). In R 13/21 stellte die Große Beschwerdekammer klar, dass im Verfahren nach Art. 112a EPÜ allenfalls geprüft werden soll und darf, (i) ob der Beteiligte zur Frage der Zulassung neuen Vorbringens oder neuer Anträge gehört worden ist und/oder (ii) ob ein Ermessensfehler vorliegt (s. auch R 4/22). Die letztgenannte Prüfung dürfe sich allenfalls auf zwei Aspekte beziehen, nämlich darauf, ob überhaupt ein Ermessen bestand und die Kammer diesen Umstand auch erkannt hat (Ermessensüberschreitung bzw. -nichtgebrauch), sowie darauf, ob die Ausübung des Ermessens willkürlich oder offensichtlich rechtswidrig war (Ermessensmissbrauch bzw. -fehlgebrauch).
In R 13/12 stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass sie wachsam bleiben und jeden Versuch abwehren müsse, die Grenze zu verwischen zwischen dem, was eindeutig eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nach Art. 113 und 112a (2) c) EPÜ sein könnte, und allem anderen, das als eine Verletzung des rechtlichen Gehörs dargestellt wird, sich de facto aber auf die Entscheidung in der Sache bezieht.
In R 25/22 erklärte die Große Beschwerdekammer, dass die Nichtzuständigkeit für die Beurteilung der Richtigkeit einer Entscheidung nicht bedeutet, dass die Große Beschwerdekammer grundsätzlich daran gehindert ist, die Argumentation der Kammer zu analysieren und zu verstehen. Um festzustellen, ob ein übergangenes Argument eines Beteiligten oder ein überraschendes neues Argument einer Kammer tatsächlich kausal für eine Entscheidung der Kammer war, muss sich die Große Beschwerdekammer zwangsläufig in der Sache mit dem Fall auseinandersetzen und zumindest die Argumente der Beteiligten und die Begründung der Kammer verstehen (s. auch dieses Kapitel V.B.4.3.2).
In R 3/18 vertrat die Große Beschwerdekammer die Auffassung, dass die vorliegende, vom Antragsteller dargestellte "Estoppel"-Situation grundsätzlich für eine Vorlage an die Große Beschwerdekammer nach Art. 112 EPÜ infrage kommen könnte. Die Große Beschwerdekammer stellte jedoch fest, dass das Fehlen einer solchen Vorlage nach Art. 112 EPÜ die Große Beschwerdekammer nicht berechtige, sich in Verfahren nach Art. 112a EPÜ mit dem Antrag des Antragstellers auf Berichtigung der Estoppel-Situation zu befassen und die zu prüfende Entscheidung aufzuheben.
Folgende Punkte können nicht Gegenstand des Überprüfungsverfahrens sein:
– die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit (R 1/08, R 12/09 vom 15. Januar 2010 date: 2010-01-15, R 6/11, R 14/13, R 6/15) einschließlich der Bestimmung des nächstliegenden Stands der Technik (R 5/13)
– die Auslegung eines Dokuments des Stands der Technik (R 9/08, R 8/09, R 4/11)
– die Beurteilung der Klarheit (R 15/10)
– die Beurteilung einer offenkundigen Vorbenutzung (R 19/10)
– die Beweiswürdigung (R 21/09)
- die Schlussfolgerungen in Bezug auf Argumente, Tatsachen und Beweismittel, einschließlich der Frage, welcher Beteiligte im Beschwerdeverfahren die Last der Darlegung von Argumenten, Tatsachen und Beweismitteln trug oder inwieweit Gegenbeweise erforderlich waren (R 11/21)
– die Frage, ob eine Angelegenheit an die erste Instanz zurückzuverweisen ist (R 10/09, R 12/09 date: 2010-01-15, R 9/10, R 7/13, R 24/22)
– die Frage, ob ein neuer Antrag (R 10/11, R 11/11, R 13/11, R 4/13) oder ein neues Dokument nach Art. 12 VOBK 2007 (R 10/09, R 17/11) oder nach Art. 13 (1) VOBK 2007 (R 1/13, R 4/14, R 6/17) zuzulassen ist
– die Frage, ob eine Beschwerde zuzulassen ist (R 10/09, R 10/14)
– die Frage, ob die in G 1/99 (ABl. 2001, 381) genannte Ausnahme vom Verschlechterungsverbot in einem bestimmten Fall anwendbar ist oder nicht (R 4/09; s. auch R 10/14)
– die Frage, ob eine Rechtsfrage gemäß Art. 112 EPÜ der Großen Beschwerdekammer vorzulegen ist (R 7/13, R 17/14)
– ob die Kammern befugt sind, über einen Antrag auf Durchführung der mündlichen Verhandlung vor der Prüfungsabteilung in München statt in Den Haag zu entscheiden (R 13/14)
– ausreichende Offenbarung (R 2/14 vom 22. April 2016 date: 2016-04-22).
- R 0012/23
In R 12/23 the Enlarged Board of Appeal (hereinafter referred to as "EBA") summarised the petitioner’s assertions concerning procedural deficiencies regarding the ground for petition mentioned in Art. 112a(2)(c) in conjunction with Art. 113(1) EPC as follows.
(i) the petitioner had had no opportunity during the oral proceedings to argue on the standard applied by the board in the written decision.
(ii) the board had neglected the "gold standard" as one of two alternative approache.
- in the decision, the board had applied only the "essentiality test" and not also the "gold standard" thereby contravening R 2/14 an.
- the board had provided no opportunity to discuss the "gold standard", during the oral proceedings; an.
(iii) the decision was not sufficiently reasoned on the "gold standard" or on the "essentiality test".
The EBA found that the first alleged procedural deficiency was obviously unfounded, because it was in direct contradiction with the petitioner’s own conclusion which made it clear that the discussion in the oral proceedings had been "identically" mirrored in the written decision.
On the second alleged procedural deficiency, the EBA stated that it could not find that the board had obviously not applied the "gold standard" due to the fact that it may also have examined the criteria of the "essentiality test". The EBA had to rely on the board’s declaration that it had applied the "gold standard", given that the EBA was prevented from scrutiny of the application of the law, i.e. whether the board had applied the "gold standard" in an incorrect manner.
The EBA considered whether the R 2/14 rationale would at all apply to the case in hand and concluded that in R 2/14 it had been held that the board would have needed to address (three) alternative factual approaches to assessing sufficiency of disclosure. In the case in hand, however, the (two) approaches in question were legal approaches. Having opted for one of them and thus having determined the law, the board was under no obligation to apply the facts of the case to an alternative legal approach..
In this regard, the EBA noted that a board deciding on a case must establish the facts and apply the law to them. If a party puts forward several alternative sets of facts in order to support a specific finding of law, then the board must assess whether any of these sets support that finding and may only reject the suggested finding once it has concluded that none of the sets of facts justifies it. The EBA emphasised that there is no need to discuss alternative legal approaches, as distinguished from factual approaches, in the decision, because the board determines the law, in particular the correct legal approach. However, even though this had not been necessary, the board in the case in hand had still applied both approaches, i.e. the "gold standard" and the "essentiality test"..
The finding that the requirement to discuss alternative approaches set out in R 2/14 did not apply in this case presupposed that the board had given the party an opportunity to provide its comments on the correct legal approach. The petitioner itself stated that this had been the case. If, during the oral proceedings, the petitioner had considered that the board should not apply the "essentiality test" under the guise of the "gold standard", then it should have alerted the board to its view. The EBA concluded that there had been no violation of the petitioner’s right to be heard with respect to the second asserted procedural deficiency.
Concerning the third asserted procedural deficiency, the EBA recalled the criteria laid down in R 8/15 and R 10/18. It held that in line with point 1 of the Catchword of R 8/15, the board had addressed submissions it had identified as being relevant, in the reasons for the decision. The question was whether the board had also substantively considered those submissions as also required in point 1 of that Catchword. The EBA held that this had been the case and thus considered the third asserted procedural deficiency clearly unfounded.
The EBA concluded that the petition for review was clearly unallowable, since none of the three asserted fundamental deficiencies constituted a violation of the right to be heard.
- R 0012/21
In R 12/21 prüfte die Große Beschwerdekammer (GBK), ob die Kammer entsprechend dem seitens der Antragstellerin geltend gemachten sechsten bis achten Verfahrensmangel gegen das Recht auf rechtliches Gehör verstoßen hatte (Art. 112a (2) c) i.V.m. Art. 113 (1) EPÜ). Diese Mängel betrafen die Nichtzulassung des Hilfsantrags. Die Nichtzulassung des Hilfsantrags wurde in der angefochtenen Entscheidung auf zwei Gründe kumulativ gestützt: Fehlen der Voraussetzungen von Art. 12 (2) VOBK 2007 und eine prima facie fehlende Neuheit des Gegenstands von Anspruch 1 des Hilfsantrags.
Die GBK merkte an, dass zur Frage der Zulassung neuen Vorbringens in einem Teil der Rechtsprechung der GBK zu Art. 112a EPÜ verlangt wird, dass der Beteiligte zu dessen Zulassung (lediglich) ausreichend zu hören ist, nach einem anderen Teil der Rechtsprechung ist darüber hinaus die Ausübung des Ermessens im Rahmen der Zulassung nicht nur auf Willkür, sondern auch auf offensichtliche Unrichtigkeit zu überprüfen (R 6/20). Der GBK zufolge stellte sich vorliegend bereits die Frage, ob die Antragstellerin ausreichend gehört worden war, und darüber hinaus ggf., ob die zutreffenden Rechtsgrundlagen für die Ausübung des Ermessens zu Grunde gelegt und das Ermessen damit nicht offensichtlich unrichtig angewandt worden war. Nur bei positiver Beantwortung beider Fragen könne der Überprüfungsantrag unbegründet sein.
Da die GBK die erste Frage negativ beantwortete und der Überprüfungsantrag aus diesem Grund bereits Erfolg hatte, kam es auf die zweite Frage nicht an. In der Entscheidung der GBK wurde daher lediglich die Frage des ausreichenden Gehörs der Antragstellerin im Hinblick auf die Nichtzulassung des Hilfsantrags vor dem Hintergrund der geltend gemachten fehlenden Möglichkeit, zur prima facie-Neuheit Stellung zu nehmen, erörtert. Den Vortrag der Antragstellerin verstand die GBK dahingehend, dass diese sich bei der Erörterung der Zulassung des Hilfsantrags 1 während der mündlichen Verhandlung nicht zum Aspekt, auf den sich die Kammer in der Entscheidungsbegründung stützte, hatte äußern dürfen, nämlich dazu ob der "hinzugefügte Schritt […] prima facie die Neuheit gegenüber D2 herstellt und damit dem Anspruch zu einer prima facie Gewährbarkeit als Zulassungskriterium unter Art. 13 (1) VOBK 2007 verhilft".
Wenn die Kammer, so die GBK, der Auffassung gewesen wäre, die technische Debatte zum hinzugefügten Merkmal in Anspruch 1 des Hilfsantrags sei bereits im Rahmen des Hauptantrags vollumfänglich geführt worden und eine weitere Debatte im Rahmen des Hilfsantrags überflüssig, hätte die Kammer die Patentinhaberin auf eben diese Auffassung hinweisen und ihr Gelegenheit zur Stellungnahme geben müssen. Dies folge bereits aus dem Wortlaut von Art. 113 (1) EPÜ, wonach Entscheidungen des EPA nur auf Gründe gestützt werden dürfen, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten.
Die GBK kam zu dem Schluss, dass in Ermangelung des vorgenannten ausdrücklichen Ansprechens die Antragstellerin erst der schriftlichen Entscheidung entnehmen konnte, dass die Kammer die Nichtzulassung auch auf eine fehlende prima facie-Neuheit des Gegenstands von Anspruch 1 gestützt hatte. Daher sei der Patentinhaberin auch eine diesbezügliche Rüge nach R. 106 EPÜ nicht möglich gewesen. Sie sei damit daran gehindert gewesen, ihrer grundsätzlich bestehenden Pflicht nachzukommen, von sich aus im Verfahren ihre Interessen aktiv wahrzunehmen.
Im Umstand, dass die Kammer die prima facie-Neuheit des Gegenstands von Anspruch 1 des Hilfsantrags bei der Debatte über die Ausübung des Zulassungs-Ermessens im Rahmen von Art. 13 (1) VOBK 2007 nicht ausdrücklich angesprochen hatte und dazu nicht hatte vortragen lassen, sah die GBK einen schwerwiegenden Verstoß gegen das Recht auf rechtliches Gehör der Patentinhaberin (Art. 113 (1) EPÜ). Es könne nämlich nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass die Ermessensentscheidung im Falle eines Ansprechens und damit einhergehend der Gelegenheit zur Stellungnahme zur prima facie-Neuheit des Gegenstands von Anspruch 1 des Hilfsantrags anders ausgefallen gewesen wäre.