4.3. Artikel 112a (2) c) EPÜ – angeblicher schwerwiegender Verstoß gegen Artikel 113 EPÜ
4.3.21 Erfolgreiche Anträge nach Artikel 112a (2) c) EPÜ
In R 7/09 wurde dem Antrag stattgegeben, weil das EPA nicht nachweisen konnte, dass die Beschwerdebegründung des Einsprechenden dem Patentinhaber und jetzigen Antragsteller übermittelt wurde. Daher waren dem Antragsteller die Gründe nicht bekannt gewesen, auf die die Entscheidung der Beschwerdekammer auf Widerruf seines Patents gestützt war. Die Tatsache, dass die Beschwerdebegründung der Öffentlichkeit und damit auch dem Antragsteller über die elektronische Akteneinsicht leicht zugänglich war, war ohne Belang für das Recht der Beteiligten, vom Amt wie vorgeschrieben persönlich und konkret unterrichtet zu werden.
In R 4/17 argumentierte der Antragsteller, dass ihm kein Eintrag vorliege, dass er die Beschwerde oder die Beschwerdebegründung jemals erhalten habe, und dass er von der Existenz der Beschwerde erst erfahren habe, als er die Entscheidung über die anhängige Beschwerde erhielt. Das Amt war nicht in der Lage, den Zugang des wichtigen Bescheids nachzuweisen, wie nach R. 126 (2) EPÜ gefordert. Nach Ansicht der Großen Beschwerdekammer mussten sich die Beteiligten darauf verlassen können, dass das EPA die einschlägigen Vorschriften des EPÜ einhielt, und sie und ihre Vertreter waren zumindest für die Zwecke von Art. 113 (1) EPÜ nicht verpflichtet, das Verfahren mittels regelmäßiger Einsicht in die elektronische Akte selbst zu verfolgen. Vom Beschwerdegegner könne nicht erwartet werden, dass er eine negative Tatsache, d. h. den Nichterhalt des Schreibens, beweisen oder eine plausible Erklärung für den Nichterhalt liefern muss (s. auch dieses Kapitel V.B.3.13. "Beweislast").
In dem in R 3/10 zu überprüfenden Inter-partes-Verfahren hatte der Vorsitzende im Anschluss an die Ausführungen der Beteiligten zur Neuheit erklärt, "dass die Kammer über die Patentierbarkeit entscheiden wird". Die Kammer hatte daraufhin die sachliche Debatte für beendet erklärt und entschieden, dass der Hauptantrag neu, aber nicht erfinderisch sei. Nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer deckt der Begriff "Patentierbarkeit" eine Reihe potenzieller Einwände ab, und der Vorsitzende konnte nicht gemeint haben, auf alle eingehen zu wollen. Daher bestand für den Antragsteller kein Grund zur Annahme, dass sich die Entscheidung der Kammer auf mehr beziehen würde als auf das, was zuvor erörtert worden war, nämlich Neuheit. Da dem Antragsteller keine Gelegenheit gegeben worden war, sich zur erfinderischen Tätigkeit zu äußern, gab die Große Beschwerdekammer seinem Antrag auf Überprüfung statt (s. auch Kapitel III.B.2.6.1 "Unerwartete Entscheidung").
In dem R 15/11 zugrunde liegenden Ex-parte-Verfahren hatte die Kammer geurteilt, dass ein bestimmter Antrag Art. 84 EPÜ nicht genügte. Die Große Beschwerdekammer stellte fest, dass die Akten über das Beschwerdeverfahren weder einen expliziten noch einen impliziten Hinweis darauf enthielten, dass zu irgendeinem Zeitpunkt mit dem Antragsteller ein etwaiger Mangel an Klarheit erörtert oder zumindest ein entsprechender Einwand erhoben worden war. Die Große Beschwerdekammer gab dem Überprüfungsantrag statt und hielt fest, dass die Gelegenheit, sich zu einem bestimmten Grund zu äußern (hier: zu Art. 84 EPÜ), zumindest voraussetzt, dass dem Antragsteller bewusst ist oder bewusst sein hätte können, dass die Erfüllung dieses Erfordernisses fraglich ist. Eine in der Mitteilung enthaltene Erklärung über eine mögliche Erörterung unter anderem von Art. 84 EPÜ ist kein spezifischer Einwand zum betreffenden Antrag.
In dem R 16/13 zugrunde liegenden Inter-partes-Verfahren hatte der Antragsteller ein Dokument mit Ergebnissen von Vergleichsversuchen eingereicht. In ihrer schriftlichen Entscheidung warf die Beschwerdekammer eine Frage auf, die im Verfahren nicht angesprochen worden war, und es war dem Antragsteller nach dem Verfahrensablauf nicht möglich gewesen, sich aus eigenem Fachwissen die Argumentation der Kammer zu erschließen. Die Große Beschwerdekammer gab dem Überprüfungsantrag statt und stellte fest, dass das Recht, gehört zu werden, verletzt ist, wenn eine Kammer ihre Entscheidung von Amts wegen auf Gründe stützt, ohne der dadurch benachteiligten Partei Gelegenheit gegeben zu haben, sich zu diesen Gründen zu äußern oder entsprechende neue Anträge einzureichen. In T 1378/11 führte die Kammer aus, R 16/13 sei nicht dahin gehend zu verstehen, dass die Parteien das Recht hätten, vom Spruchkörper zu erfahren, wie er die Tatsachen und Argumente würdigt, die seiner Entscheidung vermutlich zugrunde gelegt werden.
Im Inter-partes-Überprüfungsverfahren R 2/14 vom 22. April 2016 date: 2016-04-22 stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass die entscheidende Argumentation der Kammer den Aspekt der Modifizierung der inaktiven SEQ ID NO: 4 durch Reklonierung der Desaturase aus E. gracilis betraf. Die Begründung der Kammer war aber insofern begrenzt, als diese im Anschluss an die Feststellung der Notwendigkeit einer Reklonierung sofort zu dem Ergebnis gekommen war, dass die Fachperson zwar jeden der erforderlichen Schritte durchführen könne, die Kombination dieser Schritte aber einen unzumutbaren Aufwand für sie darstelle. Auf die beiden alternativen Ansätze des Antragstellers war die Kammer überhaupt nicht eingegangen, sondern hatte lediglich erklärt, dass diese mit demselben Nachteil behaftet seien. Die Kammer hatte ihre Schlussfolgerung weder mit Tatsachen noch mit einer Argumentationsfolge untermauert. Somit war diese für den betroffenen Beteiligten weder verständlich noch nachvollziehbar. Die Große Beschwerdekammer gab dem Überprüfungsantrag statt.
In dem R 3/15 zugrunde liegenden Inter-partes-Verfahren hat die Große Beschwerdekammer die Entscheidung wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs aufgrund einer Neuauslegung des Anspruchs aufgehoben. Die von der Beschwerdekammer vorgenommene neue Formulierung der Aufgabe ausgehend von einer zum ersten Mal in der Begründung der schriftlichen Entscheidung eingeführten Auslegung des Patentanspruchs 1 war bisher sowohl im Einspruchsverfahren als auch im Beschwerdeverfahren von keinem der Beteiligten vorgetragen worden. Aus dem Vorbringen der Parteien war abzuleiten, dass nicht nur der Beschwerdeführer, sondern auch die Beschwerdegegner bei der Diskussion bezüglich des Merkmals ii) von einer anderen Interpretation des Patentanspruchs 1 ausgegangen waren. Der Beschwerdeführer wurde von der Argumentation in der Entscheidung überrascht und konnte zu dieser neuen Argumentation der Beschwerdekammer zur erfinderischen Tätigkeit nicht Stellung nehmen. Hierin lag eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 113 EPÜ).
In R 5/19 entschied die Große Beschwerdekammer, dass der Überprüfungsantrag des Einsprechenden, der auf eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (überraschende Entscheidungsbegründung) gemäß Art. 113 (1) EPÜ gestützt war, begründet war. Der Einsprechende stützte seinen Überprüfungsantrag u. a. auf eine schwerwiegende Verletzung des rechtlichen Gehörs, die darauf beruhte, dass die Beschwerdekammer ohne vorherige Ankündigung überraschend sämtliche in der Beschwerdebegründung schriftlich vorgebrachten Angriffe bezüglich der erfinderischen Tätigkeit unbeachtet gelassen hatte. In der angefochtenen Entscheidung hieß es, die schriftlich vorgebrachten Angriffe fänden – mangels Verwendung des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes – keine Beachtung. Damit beruhte die Entscheidung auf einem Grund, zu welchem sich der Einsprechende vor deren Kenntnisnahme nicht äußern konnte.
- R 0011/23
In R 11/23 the petition was based on Art. 112a(2)(c) EPC, i.e. the fundamental violation of Art. 113(1) EPC. It was alleged that the clarity objection against auxiliary request 8, which had led to the board's finding that said request had been unallowable, had never been discussed, neither in the written nor in the oral proceedings, but had been brought forward only in the board's written decision..
Specifically, the petitioner argued that there had been two distinct clarity objections against claim 1 of auxiliary request 8: the alleged lack of clarity regarding what "maintaining currents in an allowable range" meant (the "allowable current range objection") and the alleged lack of information on which components were to be protected by the protective circuit (the "unspecified components objection"). The petitioner acknowledged that it had been heard in the context of the "allowable current range objection" but it asserted that it had been confronted with the "unspecified components objection" only when reading the written decision.
The Enlarged Board held that it did not see any clear indication that the "unspecified components objection" had been raised implicitly, for example as an aspect of an overarching clarity objection..
The Enlarged Board agreed with the petitioner in that it was not sufficient for a relevant specific aspect such as the "unspecified components" to be covered or encompassed by a broader clarity objection that had been discussed if the parties had not been aware of the specific aspect during the discussion. In this context, opponent 2 had referred to paragraph [0018] of the patent which had been mentioned in point 7.4 of the decision under review. The Enlarged Board could not see that such a reference implied that the "unspecified components objection" had been discussed. Furthermore, it did not regard the wording of point 7.5 of said decision as evidence that the "unspecified components objection" had been discussed, because it was not clear whether the phrase "as the appellants and the infringer [sic] correctly argue" was linked to the "unspecified components objection".
According to the Enlarged Board, since it had no power or ability to investigate further whether other facts or indications might suggest that the petitioner could be aware that the board had had doubts about the specific aspect of clarity (namely, the "unspecified component" issue), it had to rely on the parties' submissions in this respect. In the absence of any such indication, it was not for the party alleging a breach of its right to be heard to prove that there had been no such facts or indications (see R 15/11). Any doubts remaining on whether a decision under review was based upon facts and considerations on which the parties had had an opportunity to comment must be solved to the affected party's benefit (see R 2/14).
For these reasons, the Enlarged Board concluded that the "unspecified components objection" had not been discussed during appeal proceedings and its use in the written decision had therefore come as a surprise to the petitioner.
As in the appeal case underlying R 2/14, a broader objection had been discussed during appeal proceedings in the present case but not the specific aspect encompassed by the broader objection that turned out to be decisive for the case. In such cases, the "grounds" as referred to in Art. 113(1) EPC may have a more specific meaning than a broader objection like "lack of clarity" or "insufficiency of disclosure". In the present case, it was irrelevant that the broader clarity objection had been discussed. The critical aspect, namely the question of which components needed to be protected, had not been discussed during the appeal proceedings and the board's conclusion on this aspect had come as a surprise to the petitioner.
The "unspecified components objection" which had not been discussed during the appeal proceedings eventually was the reason for the board's finding that the patent was invalid. The Enlarged Board concluded that a fundamental violation of Art. 113(1) EPC had occurred. The decision under review was thus set aside and the proceedings before a board reopened..
On the latter, the Enlarged Board, referring to Art. 112a(5) and R. 108(3) EPC, explained that the board responsible for the reopened proceedings was not automatically the board which had issued the decision underlying the review proceedings. Rather, the allocation of the reopened proceedings had to be determined in accordance with the business distribution scheme as applicable when the proceedings were reopened.
- R 0012/21
In R 12/21 prüfte die Große Beschwerdekammer (GBK), ob die Kammer entsprechend dem seitens der Antragstellerin geltend gemachten sechsten bis achten Verfahrensmangel gegen das Recht auf rechtliches Gehör verstoßen hatte (Art. 112a (2) c) i.V.m. Art. 113 (1) EPÜ). Diese Mängel betrafen die Nichtzulassung des Hilfsantrags. Die Nichtzulassung des Hilfsantrags wurde in der angefochtenen Entscheidung auf zwei Gründe kumulativ gestützt: Fehlen der Voraussetzungen von Art. 12 (2) VOBK 2007 und eine prima facie fehlende Neuheit des Gegenstands von Anspruch 1 des Hilfsantrags.
Die GBK merkte an, dass zur Frage der Zulassung neuen Vorbringens in einem Teil der Rechtsprechung der GBK zu Art. 112a EPÜ verlangt wird, dass der Beteiligte zu dessen Zulassung (lediglich) ausreichend zu hören ist, nach einem anderen Teil der Rechtsprechung ist darüber hinaus die Ausübung des Ermessens im Rahmen der Zulassung nicht nur auf Willkür, sondern auch auf offensichtliche Unrichtigkeit zu überprüfen (R 6/20). Der GBK zufolge stellte sich vorliegend bereits die Frage, ob die Antragstellerin ausreichend gehört worden war, und darüber hinaus ggf., ob die zutreffenden Rechtsgrundlagen für die Ausübung des Ermessens zu Grunde gelegt und das Ermessen damit nicht offensichtlich unrichtig angewandt worden war. Nur bei positiver Beantwortung beider Fragen könne der Überprüfungsantrag unbegründet sein.
Da die GBK die erste Frage negativ beantwortete und der Überprüfungsantrag aus diesem Grund bereits Erfolg hatte, kam es auf die zweite Frage nicht an. In der Entscheidung der GBK wurde daher lediglich die Frage des ausreichenden Gehörs der Antragstellerin im Hinblick auf die Nichtzulassung des Hilfsantrags vor dem Hintergrund der geltend gemachten fehlenden Möglichkeit, zur prima facie-Neuheit Stellung zu nehmen, erörtert. Den Vortrag der Antragstellerin verstand die GBK dahingehend, dass diese sich bei der Erörterung der Zulassung des Hilfsantrags 1 während der mündlichen Verhandlung nicht zum Aspekt, auf den sich die Kammer in der Entscheidungsbegründung stützte, hatte äußern dürfen, nämlich dazu ob der "hinzugefügte Schritt […] prima facie die Neuheit gegenüber D2 herstellt und damit dem Anspruch zu einer prima facie Gewährbarkeit als Zulassungskriterium unter Art. 13 (1) VOBK 2007 verhilft".
Wenn die Kammer, so die GBK, der Auffassung gewesen wäre, die technische Debatte zum hinzugefügten Merkmal in Anspruch 1 des Hilfsantrags sei bereits im Rahmen des Hauptantrags vollumfänglich geführt worden und eine weitere Debatte im Rahmen des Hilfsantrags überflüssig, hätte die Kammer die Patentinhaberin auf eben diese Auffassung hinweisen und ihr Gelegenheit zur Stellungnahme geben müssen. Dies folge bereits aus dem Wortlaut von Art. 113 (1) EPÜ, wonach Entscheidungen des EPA nur auf Gründe gestützt werden dürfen, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten.
Die GBK kam zu dem Schluss, dass in Ermangelung des vorgenannten ausdrücklichen Ansprechens die Antragstellerin erst der schriftlichen Entscheidung entnehmen konnte, dass die Kammer die Nichtzulassung auch auf eine fehlende prima facie-Neuheit des Gegenstands von Anspruch 1 gestützt hatte. Daher sei der Patentinhaberin auch eine diesbezügliche Rüge nach R. 106 EPÜ nicht möglich gewesen. Sie sei damit daran gehindert gewesen, ihrer grundsätzlich bestehenden Pflicht nachzukommen, von sich aus im Verfahren ihre Interessen aktiv wahrzunehmen.
Im Umstand, dass die Kammer die prima facie-Neuheit des Gegenstands von Anspruch 1 des Hilfsantrags bei der Debatte über die Ausübung des Zulassungs-Ermessens im Rahmen von Art. 13 (1) VOBK 2007 nicht ausdrücklich angesprochen hatte und dazu nicht hatte vortragen lassen, sah die GBK einen schwerwiegenden Verstoß gegen das Recht auf rechtliches Gehör der Patentinhaberin (Art. 113 (1) EPÜ). Es könne nämlich nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass die Ermessensentscheidung im Falle eines Ansprechens und damit einhergehend der Gelegenheit zur Stellungnahme zur prima facie-Neuheit des Gegenstands von Anspruch 1 des Hilfsantrags anders ausgefallen gewesen wäre.