2.2.8 Substantiierung der Einspruchsgründe: Angabe von Tatsachen, Beweismitteln und Argumenten
In Anwendung der Entscheidung G 1/95 (ABl. 1996, 615) stellt eine geltend gemachte offenkundige Vorbenutzung keinen Einspruchsgrund nach Art. 100 a) EPÜ dar. Vielmehr handelt es sich dabei um Tatsachen, die zur Begründung eines Einspruchsgrunds angegeben werden (T 190/05).
Eine behauptete offenkundige Vorbenutzung entspricht dem dritten Erfordernis der R. 76 (2) c) EPÜ nur, wenn sie ausreichend substantiiert ist. Gemäß der ständigen Rechtsprechung (z. B. T 328/87, ABl. 1992, 701; T 538/89; T 988/91; T 541/92; T 28/93; T 927/98; T 900/99, T 1022/99; T 190/05; T 25/08; T 1856/11; T 2037/18, T 105/18) sind die Voraussetzungen der R. 76 (2) c) EPÜ bei einem auf eine offenkundige Vorbenutzung gestützten Einspruchsgrund erfüllt, wenn anhand der innerhalb der Einspruchsfrist in der Einspruchsschrift angegebenen Tatsachen Folgendes ermittelt werden kann:
der Zeitpunkt der Vorbenutzung ("wann") zur Feststellung der Vorzeitigkeit der Benutzung,
der Gegenstand der Vorbenutzung ("was") zur Prüfung ihrer Relevanz sowie
die Umstände der Vorbenutzung ("wie") zur Bestätigung ihrer öffentlichen Zugänglichkeit.
Außerdem sind in der Einspruchsschrift die Argumente und Beweismittel zur Stützung der behaupteten Vorbenutzung zu nennen.
Eine abstrakte Angabe des Gegenstands der Vorbenutzung ist im Allgemeinen nicht ausreichend. Vielmehr müssen die Merkmale des betreffenden Anspruchs mit den Merkmalen des Gegenstands der Vorbenutzung verglichen und technische Zusammenhänge aufgezeigt werden (s. z. B. T 28/93, T 25/08, T 426/08). Solche Angaben können jedoch bei einfach gelagertem Sachverhalt unterbleiben, wenn dieser für die Durchschnittsfachperson aus sich heraus unmittelbar verständlich ist (T 1069/96, T 25/08, T 426/08). In T 1856/11 berücksichtigte die Kammer bei der Tatsachenermittlung den Inhalt der während der Einspruchsfrist eingereichten Unterlagen.
In T 538/89 stellte die Kammer fest, dass die zum Nachweis der offenkundigen Vorbenutzung angebotenen Beweismittel noch nach Ablauf der Einspruchsfrist vorgelegt werden können, da R. 55 c) EPÜ 1973 (vgl. R. 76 (2) c) EPÜ) lediglich fordert, dass sie angegeben werden (s. auch z. B T 234/86, ABl. 1989, 79; T 752/95; T 249/98; T 1022/99 und T 25/08). Eine Zeugenbenennung für eine spätere Zeugeneinvernahme ist laut Kammer als Angabe eines Beweismittels zu werten (vgl. T 28/93, T 988/93, auch T 241/99). In T 1553/07 stellte die Kammer fest, dass eine Zeugenbenennung für eine spätere Zeugeneinvernahme als ausreichende Angabe eines Beweismittels zu werten ist, soweit erkenntlich ist, für welche Tatsachenbehauptungen der Zeuge benannt wird. Es müsse auch nicht angegeben werden, was der Zeuge zu dem behaupteten Sachverhalt aussagen könnte.
Es ist zu unterscheiden zwischen der Prüfung des Einspruchs auf Zulässigkeit und der Prüfung auf materiellrechtliche Begründetheit. Die Angaben zum "Wann", "Wo" und "Wie" der Vorbenutzung sind alles, was der Patentinhaber und die Einspruchsabteilung benötigen, um das Vorbringen des Einsprechenden zu verstehen, und damit die einzigen Zulässigkeitsvoraussetzungen für den Einspruch. Alles Übrige, d. h., ob die behaupteten Tatsachen hinreichend bewiesen sind bzw. im Laufe des Einspruchsverfahrens mit Hilfe nachgereichter Beweismittel hinreichend bewiesen werden, ist eine Frage der materiellrechtlichen Begründetheit. Der Nachweis, dass die angebliche Vorbenutzung tatsächlich öffentlich war, ist daher für die Zulässigkeit des Einspruchs unerheblich, kann jedoch unter Umständen für die Beurteilung der materiellrechtlichen Begründetheit des Einspruchs von Bedeutung sein (s. T 786/95, T 1022/99, T 1553/07, T 25/08, T 1856/11, T 2037/18, T 105/18).
Rechtsprechung zu der Frage, ob ausreichende Angaben zum "Wann", "Was" und "Wie" der Vorbenutzung vorliegen, findet sich auch in anderen Kontexten, nämlich dort, wo eine Kammer prüfen muss, ob (und wann) eine offenkundige Vorbenutzung so ausreichend substantiiert vorgetragen wurde, dass sie im Verfahren berücksichtigt werden kann (s. z. B. T 441/91, T 97/92, T 611/97, T 460/13, T 1955/13; zur Zulassung verspäteten Vorbringens s. in diesem Kapitel IV.C.4), oder ob die Substantiierung von Tatsachen die Erhebung eines angebotenen Beweises ermöglicht (s. z. B. T 1271/06, in der T 297/00 zitiert wird).
In T 2037/18 rief die Kammer im Zusammenhang mit dem Substantiierungserfordernis gemäß R. 76(2)(c) EPC in Erinnerung, dass nach den im Rahmen des EPÜ geltenden Regeln zur Darlegungs- und Beweislast jede Partei die ihr günstigen Tatsachen vorzutragen und zu beweisen hat (T 219/83, T 270/90). Die Kammer erläuterte, dass der Verkauf eines gebrauchsfertigen Gegenstands an einen Dritten der typische Fall der öffentlichen Zugänglichmachung ist (T 482/89), da der Dritte in der Regel daran interessiert ist, über den Gegenstand frei zu verfügen. Beim Verkauf eines Gegenstands an einen Kunden werden daher der Gegenstand und die an ihm erkennbaren technischen Merkmale öffentlich zugänglich, wenn er an den Käufer übergeben wird (positive Tatsache), es sei denn, der Käufer wäre durch eine Geheimhaltungsverpflichtung gebunden (negative Tatsache). Dementsprechend ist die Übergabe an einen Käufer durch den Einsprechenden vorzutragen und zu beweisen (T 326/93), die etwaige Bindung des Empfängers durch eine Geheimhaltungsvereinbarung aber vom Patentinhaber (T 221/91, T 969/90), wie dies auch durch den in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern (R 15/11, R 4/17) anerkannten Grundsatz "negativa non sunt probanda" zum Ausdruck kommt. Die Kammer stellte weiterhin fest, dass die Darlegungs- und Beweislast wechseln kann, dass der Wechsel der Beweislast jedoch erst durch den prima facie geführten Beweis oder den Vortrag eines eine tatsächliche Vermutung tragenden typischen Geschehensablaufs durch die primär beweisbelastete Partei ausgelöst wird (T 570/08). Der Vortrag des Patentinhabers kann daher zwar ggf. zur Entstehung einer sekundären Darlegungs- und Beweislast des Einsprechenden führen, dies jedoch nur "ex nunc" und damit ohne Auswirkung auf das Substantiierungserfordernis im Rahmen der Einspruchsschrift gemäß R. 76 (2) c), drittes Kriterium EPÜ.
Laut mehrerer Entscheidung umfasst die Feststellung der Umstände der Benutzungshandlung auch, dass der Einsprechende angibt, wem der Gegenstand zugänglich gemacht wurde (z. B. T 522/94, ABl. 1998, 421, T 339/01, T 1553/07, T 2010/08, T 1927/08). Beispielsweise befand die Kammer in T 241/99, dass bei einem vermeintlichen Verkauf an eine kleine geschlossene Kundengruppe die verschlüsselte Angabe der Käufer (anhand einer Liste mit Kundennummern) R. 55 c) EPÜ 1973 (R. 76 (2) c) EPÜ) nicht genügt. Dieser Fall unterscheide sich vom Verkauf von Massenware an anonyme Kunden und ähnle eher dem eines einzigen Verkaufs, bei dem die Erfordernisse der R. 76 (2) c) EPÜ nur erfüllt sind, wenn Name und Anschrift des einzigen Kunden innerhalb der Einspruchsfrist mitgeteilt werden.
Unter Verweis auf T 472/92 (ABl. 1998, 161) stellte die Kammer in T 55/01 fest, dass in Fällen, in denen nur ein Beteiligter Zugang zu Informationen über eine behauptete offenkundige Vorbenutzung hat, die Rechtsprechung dazu neigt zu erwarten, dass die offenkundige Vorbenutzung jenseits vernünftiger Zweifel ("lückenlos") unter Beantwortung der üblichen Fragen "Was?", "Wann?", "Wo?", "Wie?" und "Wem?" nachgewiesen wird, da der andere Beteiligte lediglich auf Ungereimtheiten oder Lücken in der Beweiskette hinweisen kann. Die Kammer stellte jedoch unter Verweis auf T 241/99 fest, dass gemäß der Rechtsprechung bei einem in Massenfertigung hergestellten Verbrauchsgut, das umfassend beworben und Kunden zum Kauf angeboten wurde, die in der Regel anonym bleiben, möglicherweise andere Maßstäbe anzulegen sind. Im vorliegenden Fall waren keine Angaben zur Identität der Käufer gemacht und keinerlei Belege vorgelegt worden. Das Inverkehrbringen der Massenware und die Verbreitung der zugehörigen Anleitung wurden jedoch unter Abwägung der Wahrscheinlichkeit als erwiesen angesehen. Siehe auch T 414/17, wo die Kammer die Angabe, dass ein (für den Massenmarkt gedachtes) Produkt durch Werbung und Verkaufsangebote zur Verfügung gestellt wurde, als ausreichende Substantiierung der Umstände ansah.
In T 574/17 stammten alle verfügbaren Beweise aus dem Einflussbereich des Beschwerdeführers (Einsprechenden). Entscheidend war daher, ob die Kammer nach Würdigung aller Beweise die behauptete öffentliche Vorbenutzung als jenseits vernünftiger Zweifel erwiesen ansah oder nicht. Die Kammer gelangte aufgrund von Zeugenaussagen zu der Überzeugung, dass es sich bei den fraglichen "Tonga"-Elementen um ein in Massenfertigung hergestelltes Produkt handelte. Ferner war sie davon überzeugt, dass diese in großen Mengen verkauft worden waren, wie durch die vorliegenden Rechnungen belegt wurde, und dass diese Verkäufe vor dem Prioritätstag erfolgten. Unter diesen Umständen befand die Kammer, dass es nicht erforderlich sei, einen bestimmten Verkauf einer bestimmten Tonga-Platte nachzuweisen, um zweifelsfrei zu belegen, dass 25 mm- und 40 mm-Tonga-Platten vor dem Prioritätstag verkauft wurden. Anders als die Kammer in T 55/01, die sich für ihre Schlussfolgerung auf eine Abwägung der Wahrscheinlichkeiten stützte, war die Kammer im vorliegenden Fall der Auffassung, dass die genannten Verkäufe jenseits vernünftiger Zweifel nachgewiesen worden waren.
Eingehend zur Beweiswürdigung und zum Maßstab bei der Beweiswürdigung bei Behauptung einer offenkundigen Vorbenutzung s. Kapitel III.G.4.3.2.