1. Einleitung
1.1. EPÜ-Vorschriften zur Priorität
Gemäß Art. 87 (1) EPÜ genießt jedermann, der in einem oder mit Wirkung für a) einen Vertragsstaat der PVÜ oder b) ein Mitglied der WTO eine Anmeldung für ein Patent, ein Gebrauchsmuster oder ein Gebrauchszertifikat vorschriftsmäßig eingereicht hat, oder sein Rechtsnachfolger, für die Anmeldung derselben Erfindung zum europäischen Patent während einer Frist von zwölf Monaten nach dem Anmeldetag der ersten Anmeldung ein Prioritätsrecht.
Die Artikel 87 bis 89 EPÜ bilden eine vollständige und eigenständige Regelung des Rechts, das bei der Beanspruchung von Prioritäten für europäische Patentanmeldungen anzuwenden ist (s. J 15/80, ABl. 1981, 213, bestätigt z. B. in J 9/07, G 1/15, ABl. 2017, A82, G 1/22 und G 2/22, ABl. 2024, A50, Nr. 25 der Gründe). Da jedoch das EPÜ gemäß seiner Präambel ein Sonderabkommen im Sinne von Art. 19 der PVÜ darstellt, liegt es auf der Hand, dass es deren Prioritätsgrundsätzen nicht entgegenstehen soll (s. T 301/87, ABl. 1990, 335; G 3/93, ABl. 1995, 18; G 2/98, ABl. 2001, 413; und G 1/22 und G 2/22, Nr. 25 der Gründe).
Artikel 87 EPÜ sowie Art. 88 (2) EPÜ, Art. 88 (3) und 88 (4) EPÜ, betreffen die materiellrechtlichen Voraussetzungen, unter denen Prioritätsrechte aus einer früheren Anmeldung abgeleitet werden können. Art. 88 (1) EPÜ betrifft die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen, die ein Anmelder erfüllen muss, der die Priorität einer früheren Anmeldung in Anspruch nehmen will, nämlich die Einreichung einer Prioritätserklärung und weiterer Unterlagen beim EPA. Diese Verfahrenserfordernisse sind in der Ausführungsordnung genauer geregelt (R. 52 bis 54 EPÜ). Art. 89 EPÜ beschreibt die Wirkung des Prioritätsrechts, nämlich dass für die Zwecke der Abgrenzung vom Stand der Technik nach Art. 54 (2) und (3) EPÜ, der Prioritätstag als Anmeldetag der europäischen Patentanmeldung gilt. Mit anderen Worten erlaubt das Prioritätsrecht, bei der Beurteilung der Patentierbarkeit alles außer Acht zu lassen, was zwischen dem Prioritätstag und dem Anmeldetag Stand der Technik geworden ist (häufig "Zwischenliteratur" genannt) (G 1/22 und G 2/22, Nr. 26 der Gründe).
In G 1/22 und G 2/22 befasste sich die Große Beschwerdekammer mit den vier Erfordernissen nach Art. 87 (1) EPÜ, die sich als die folgenden Fragen darstellen lassen: "Wer?", "Wo?", "Was?" und "Wann?" (G 1/22 und G 2/22, Nrn. 58 und 91 der Gründe, s. auch T 844/18, zusammengefasst in Kapitel II.D.2.7.1.). Die Frage, ob der Anmelder der späteren Anmeldung berechtigt ist, die Priorität der früheren Anmeldung in Anspruch zu nehmen ("Wer?"-Thematik), insbesondere als Rechtsnachfolger des Anmelders der Prioritätsanmeldung wird häufig als "formale Priorität" bzw. "formale Gültigkeit des Prioritätsanspruchs" bezeichnet. Mit dieser Frage beschäftigten sich die Entscheidungen G 1/22 und G 2/22 (s. Kapitel II.D.2.). Das Kriterium "derselben Erfindung" in Art. 87 (1) EPÜ ("Was?"-Thematik) wird häufig als "materielle Priorität" oder "materielle Gültigkeit des Prioritätsanspruchs" bezeichnet und war Gegenstand zweier Vorlagen an die Große Beschwerdekammer, nämlich G 2/98, ABl. 2001, 413; und G 1/15, ABl. 2017, A82 (s. Kapitel II.D.4.). Die beiden verbleibenden Erfordernisse werden in den Kapiteln II.D.3. ("Wo?"), II.D.1.2. und II.D.2.4.2. ("Wann?") behandelt.