4.4. Zweite Stufe des Konvergenzansatzes – Vorbringen nach Einreichung der Beschwerdebegründung oder Erwiderung – Artikel 13 (1) VOBK
4.4.1 Grundsätze
Art. 13 (1) VOBK implementiert die zweite Stufe des im Beschwerdeverfahren anzuwendenden Konvergenzansatzes. Er legt die Bedingungen fest, unter denen ein Beteiligter sein Beschwerdevorbringen nach der Anfangsphase des Verfahrens ändern kann (insbesondere mit der Replik des Beschwerdeführers).
Es obliegt der jeweiligen Partei, jede Änderung ihres Vorbringens zu erklären und mit rechtfertigenden Gründen zu versehen (siehe CA/3/19, Abschnitt V.B.a), Punkt 49; siehe auch Kapitel V.A.4.4.4 unten). Dazu gehört auch die Angabe von Gründen dafür, dass die Änderung nicht in einem früheren Stadium des Beschwerdeverfahrens eingereicht wurde (Art. 13 (1) Satz 3 VOBK, hervorgehoben z. B. in T 136/16 und T 2688/16). Die Kammern haben wiederholt auf die Pflicht der Parteien hingewiesen, alle Tatsachen, Beweise, Argumente und Anträge so früh und so vollständig wie möglich einzureichen (siehe z. B. T 1014/17 und T 1203/16).
Die Zulassung der Änderung steht im Ermessen der Kammer (siehe CA/3/19, Abschnitt VI, Erläuterungen zu Art. 13 (1) VOBK, Zusatzpublikation 2, ABl. 2020, 32). Gemäß Art. 13 (1) VOBK berücksichtigen die Kammern bei der Ausübung ihres Ermessens insbesondere den Stand des Verfahrens, die Eignung der Änderung zur Lösung der von einem anderen Beteiligten in zulässiger Weise aufgeworfenen Fragen oder der von der Kammer selbst aufgeworfenen Fragen, ferner ob die Änderung der Verfahrensökonomie abträglich ist, und bei Änderung einer Patentanmeldung oder eines Patents, ob der Beteiligte aufgezeigt hat, dass die Änderung prima facie die aufgeworfenen Fragen ausräumt und keinen Anlass zu neuen Einwände gibt.
Wie von der Kammer in T 1217/17 und T 2101/16 bestätigt, ist die Liste von Kriterien zur Anwendung dieses Ermessens in Art. 13 (1) VOBK nicht erschöpfend (siehe auch T 1213/19 date: 2022-09-23, mit Verweis auf CA/3/19, Abschnitt VI, Erläuterungen zu Art. 13 (1) VOBK, Absatz 2, Satz 1; Zusatzpublikation 2 Abl. 2020). Darüber hinaus legt Art. 13 (1) Satz 2 VOBK die entsprechende Anwendung von Art. 12 (4) bis (6) VOBK fest, was auch die Kriterien in Art. 12 (4) Satz 5 VOBK einschließt (u. a. Komplexität der Änderung, siehe z. B. T 32/16, T 310/18). Gemäß T 1213/19 date: 2022-09-23 (mit Verweis auf T 731/16, T 2796/17 und T 310/18) ist es ständige Rechtsprechung, dass neben den in Art. 13 (1) VOBK genannten Kriterien weitere entscheidende Kriterien für die Zulassung verspätet eingereichter Dokumente ihre Prima-facie-Relevanz und die Frage, ob sie einen komplexen Sachverhalt einführen, sein können. Die Prima-facie-Relevanz des Vorbringens hat jedoch nicht immer Vorrang vor der Tatsache, dass der Beschwerdegegner dieses (ordnungsgemäß begründet und belegt) bei der ursprünglichen Formulierung seines Beschwerdevorbringens hätte vorbringen können und sollen (siehe z. B. T 1333/20). In T 154/16 berücksichtigte die Kammer u. a. die mögliche Überraschung des anderen Beteiligten und den Grundsatz der Verfahrensgerechtigkeit. Letzterer wurde auch in T 1014/17 berücksichtigt.
In mehreren Entscheidungen ließen die Kammern neue Anträge in diesem Stadium zu, weil sie sie für rechtzeitig eingereicht und prima facie gewährbar (siehe z. B. T 851/18 date: 2020-01-10, T 131/18) oder zumindest prima facie geeignet hielten, die in der angefochtenen Entscheidung erhobenen Einwände auszuräumen (siehe z. B. T 2044/20). Einige Anträge, die früher hätten eingereicht werden müssen, wurden dennoch zugelassen, z. B., weil sie prima facie gewährbar und der Verfahrensökonomie nicht abträglich waren (siehe z. B. T 1597/16).
Die Kammern haben wiederholt betont, dass die in Art. 13 (1) VOBK (in ihrer aktuellen Fassung) festgelegten Kriterien die ständige Rechtsprechung berücksichtigen, die sich durch die stringente Anwendung der Erfordernisse von Art. 13 (1) VOBK 2007 entwickelt hatte (siehe z. B. T 634/16, T 32/16, T 1480/16, T 1597/16, T 658/17).
Wie in Kapitel V.A.4.1.2 "Vorrangiges Ziel des Beschwerdeverfahrens und Konvergenzansatz hinsichtlich Änderungen des Beteiligtenvorbringens" dargelegt, spielen die Erfordernisse der zweiten Stufe des Konvergenzansatzes (Art. 13 (1) VOBK) auch eine Rolle in der dritten Stufe. Wie in den Erläuterungen zu Art. 13 (2) VOBK vorgesehen und durch die Rechtsprechung (siehe z. B. T 989/15, T 584/17, T 954/17, T 1869/18) bestätigt, können die Kammern bei der Ausübung ihres Ermessens nach Art. 13 (2) VOBK auch Kriterien heranziehen, die auf der zweiten Stufe des Konvergenzansatzes gelten. Es sei darauf hingewiesen, dass Entscheidungen zur Anwendung der Kriterien von Art. 13 (1) VOBK daher nicht nur in diesem Kapitel, sondern auch Kapitel V.A.4.5.4 e), V.A.4.5.5 b) and V.A.4.5.5 j) vorgestellt werden.