G. Verbot der Doppelpatentierung
1. Einführung
Nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer kann eine europäische Patentanmeldung nach Art. 97 (2) und 125 EPÜ zurückgewiesen werden, wenn sie denselben Gegenstand beansprucht wie ein demselben Anmelder erteiltes europäisches Patent, das nicht zum Stand der Technik nach Art. 54 (2) und (3) EPÜ gehört. Die Anmeldung kann auf dieser Rechtsgrundlage zurückgewiesen werden, unabhängig davon, ob sie a) am Anmeldetag oder b) als frühere Anmeldung oder Teilanmeldung (Art. 76 (1) EPÜ) zu oder c) unter Inanspruchnahme der Priorität (Art. 88 EPÜ) der europäischen Patentanmeldung eingereicht worden ist, die zu dem bereits erteilten europäischen Patent geführt hat (G 4/19, ABl. 2022, A24, Nrn. 1 und 2.1 der Entscheidungsformel).
Die Große Beschwerdekammer machte sich in G 4/19 die von der vorlegenden Kammer getroffene enge Auslegung des Begriffs "Doppelpatentierung" (T 318/14 date: 2019-02-07, ABl. 2020, A104, Nrn. 17 bis 23 der Gründe) zu eigen. Zu Doppelpatentierung in diesem engeren Sinne kann es kommen, wenn zwei oder mehr europäische Patentanmeldungen mit sich überschneidendem territorialem Schutzumfang, die auf denselben Gegenstand gerichtet sind und dasselbe wirksame Datum haben, vom selben Anmelder eingereicht werden. Da solche Anmeldungen nicht zum Stand der Technik gemäß Art. 54 (2) oder (3) EPÜ gehören, könnte ihre Weiterverfolgung dazu führen, dass derselbe Anmelder zwei oder mehr Patente erteilt bekommt, die auf denselben Gegenstand gerichtet sind und deren territorialer Schutzumfang identisch ist oder sich zumindest überschneidet.
Es gibt drei Situationen, in denen solche europäischen Patentanmeldungen dasselbe wirksame Datum haben könnten: i) eine europäische Patentanmeldung wird am selben Tag wie eine andere europäische Patentanmeldung desselben Anmelders eingereicht (parallele Einreichungen); ii) eine europäische Patentanmeldung wird als europäische Teilanmeldung (Art. 76 (1) EPÜ) zu einer früheren europäischen Patentanmeldung eingereicht (Teilanmeldung); iii) es wird eine europäische Patentanmeldung eingereicht, die die Priorität (Art. 88 EPÜ) einer früheren europäischen Patentanmeldung beansprucht (innere Priorität), oder beide beanspruchen die Priorität derselben nationalen Anmeldung (s. G 4/19, Nr. 9 der Gründe).
In G 4/19 ging die Große Beschwerdekammer nicht darauf ein, was "derselbe Gegenstand" oder "derselbe Anmelder" im Zusammenhang der Doppelpatentierung bedeutet, weil dies nicht Gegenstand der Vorlage war (G 4/19, Nr. 16 der Gründe). Die Technischen Beschwerdekammern haben sich mehrfach mit dem Begriff "desselben Gegenstands" auseinandergesetzt (in diesem Kapitel II.G.3).