2.3. Vorlage durch eine Beschwerdekammer
2.3.6 Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung
Zulässig ist eine Vorlage nur, wenn sie entweder eine uneinheitliche Rechtsanwendung durch die Kammern oder eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung betrifft (s. dieses Kapitel V.B.2.3.7). Nach Art. 112 EPÜ gilt dies nicht nur für Vorlagen durch eine Kammer, sondern auch für Vorlagen durch den Präsidenten, wobei sich diese allerdings in jedem Fall auf "voneinander abweichende Entscheidungen" der Kammern beziehen müssen (s. dieses Kapitel V.B.2.4.3).
Nach T 154/04 (ABl. 2008, 46) ist eine Abweichung von der in einer anderen Beschwerdekammerentscheidung vertretenen Auffassung, oder eine Abweichung von nationaler Rechtsprechung für sich genommen kein hinreichender Vorlagegrund nach Art. 112 (1) a) EPÜ (s. auch T 314/20). Das Rechtssystem des EPÜ lässt Raum für die Fortentwicklung der Rechtsprechung, welche keine Präzedenzfälle nach angelsächsischem Verständnis begründet. In T 15/01 (ABl. 2006, 153) hielt die Kammer eine Vorlage an die Große Beschwerdekammer für nicht erforderlich, weil nur eine einzige frühere Kammerentscheidung von ihrer eigenen Schlussfolgerung zur Erschöpfung von Prioritätsrechten abwich. Auch in T 248/88 urteilte die Kammer, dass eine einzelne abweichende Entscheidung die Voraussetzungen des Art. 112 (1) a) EPÜ nicht erfüllt. Nach Auffassung der Kammer in T 314/20 ist eine Vorlage nur dann angebracht, wenn zwei oder mehrere widersprüchliche Auslegungslinien bestehen, die im dem betreffenden Fall zu unterschiedlichen Ergebnissen führen würden.
In T 438/22 räumte die Kammer ein, dass der Wortlaut von Art. 112 (1) a) EPÜ den Anschein erwecken kann, dass die Beseitigung einer Diskrepanz zwischen den Richtlinien und der Rechtsprechung auch als "Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung" verstanden werden und als solche ein guter Anlass für eine zulässige Vorlage sein könnte. Allerdings war die Kammer der Auffassung, dass eine Vorlage, die allein der Berichtigung der Richtlinien diene und weder für die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung innerhalb der Kammern noch für die Entscheidung der Kammer erforderlich sei, unzulässig ist. Siehe auch in diesem Kapitel V.B.2.3.1.
In T 712/10 erklärte die Kammer, dass die Große Beschwerdekammer keine Befugnis zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung zwischen den Beschwerdekammern und den nationalen Gerichten hat. Eine zwischen den Beschwerdekammern und den nationalen Gerichten divergierende Rechtsanwendung könnte jedoch theoretisch auf eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung hinweisen.
In T 447/22 bemerkte die Kammer mit Bezug auf T 712/10, dass eine zwischen den Beschwerdekammern und den nationalen Gerichten divergierende Rechtsanwendung zwar theoretisch auf eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung hinweisen könnte, der Zweck der Vorlage einer Frage an die Große Beschwerdekammer aber nicht in der Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung zwischen den nationalen Gerichten bestehen kann.
In T 2477/12 stellte die Kammer fest, dass die Anwendung derselben Rechtsgrundsätze und Kriterien in verschiedenen Fällen zu unterschiedlichen Ergebnissen führen könnte. Dies sei jedoch eine Folge einzelfallspezifischer Sachverhaltselemente und kein Hinweis auf eine widersprüchliche Auslegung oder eine uneinheitliche Rechtsanwendung. Siehe auch T 314/20 und T 364/20.
In G 1/12 (ABl. 2014, A114) sah die Große Beschwerdekammer das Erfordernis der Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung als erfüllt an, weil in einigen Entscheidungen eine Beseitigung von Mängeln bei der Angabe des Namens des Beschwerdeführers gemäß R. 101 (2) EPÜ zugelassen wurde, während die Kammern in anderen Entscheidungen zu vergleichbaren Fällen R. 139 EPÜ anwendeten. Eine Minderheit der Mitglieder der Großen Beschwerdekammer war der Auffassung, dass dies lediglich zeige, dass nach der einheitlichen Rechtsprechung beide Verfahren verfügbar seien, solange die Beseitigung des Mangels nicht zu einer Änderung der wirklichen Identität des (ursprünglichen) Beschwerdeführers führe.
In G 2/21 (ABl. 2023, A85) akzeptierte die Große Beschwerdekammer die Einschätzung der vorlegenden Kammer einer divergierenden Rechtsprechung, sei es auch nur bei der Verwendung unterschiedlicher konzeptioneller und terminologischer Ansätze, die den Vorlagefragen zugrunde liegen. Angesichts dieser Ansätze, so die Auffassung der Großen Beschwerdekammer, sah sich die vorlegende Kammer im vorliegenden Fall außerstande, zu einer klaren Schlussfolgerung zu gelangen.
In den verbundenen Verfahren G 1/22 und G 2/22 sah die Große Beschwerdekammer die Bedingung, dass eine Antwort auf die Vorlagefrage I erforderlich ist, um eine einheitliche Rechtsanwendung sicherzustellen, als erfüllt an. Die Große Beschwerdekammer begründete dies damit, dass die Zuständigkeit des EPA für die Feststellung der Prioritätsberechtigung in mehreren Fällen von Beschwerdekammern in Frage gestellt worden war und sich in verschiedenen anderen Fällen vor unterschiedlichen Kammern stellte.
- T 0745/23
In case T 0745/23 the board had summoned the parties to oral proceedings on the EPO premises. The respondent had requested that the oral proceedings be held by videoconference. The appellant had requested, in response, that the oral proceedings be held in person, or, alternatively, that the board refer to the Enlarged Board the following questions:.
"1. Is the conduct of oral proceedings as a videoconference in appeal proceedings outside a general emergency situation without the consent of the parties in accordance with the provisions of the EPC.
2. If yes, on which criteria should the discretion be exercised if a Board of Appeal decides on its own motion to hold oral proceedings as a videoconference pursuant to Art. 15a(1) RPBA against the request of a party?.
In the communication under Art. 15(1) RPBA, the board had found the case in hand suitable for being heard by videoconference. The appellant had not responded to this communication, and hence, according to the board, had not objected to the board’s intention to grant the respondent’s request for a videoconference. Therefore, the board had changed the venue of the oral proceedings to videoconference.
At the oral proceedings, the appellant argued that Art. 15a RPBA did not define the criteria for exercising the board’s discretion. This gave rise to different practices and legal uncertainty. Since, according to G 1/21, oral proceedings in person were the gold standard, there could be doubt as to whether Art. 15a RPBA was actually in line with the EPC.
The board disagreed. Art. 15a RPBA provided the board with the discretion to decide to hold oral proceedings pursuant to Art. 116 EPC by videoconference if the board considered it appropriate to do so, either upon a party's request or of its own motion. Its scope was general and not limited to a pandemic situation. In G 1/21, the Enlarged Board had expressly acknowledged that oral proceedings in the form of a videoconference were oral proceedings within the meaning of Art. 116 EPC. The board failed to see how Art. 15a RPBA as such violated any EPC provisions governing the fair conduct of proceedings and the right to be heard.
Furthermore, the board stated that it interpreted the discretionary power set out in Art. 15a RPBA within the framework of decision G 1/21. This decision had not excluded videoconference oral proceedings a priori, but had set certain limitations and restrictions, especially when a party did not give its consent. The board exercised its discretion in view of the particular circumstances of the case and of the reasons provided by each party in support of their opposing requests as to the format. Thus, also the party not consenting to a videoconference should provide some reasons as to why it considered that videoconference, in the case in hand, was not suitable or why the party was otherwise disadvantaged. In the case in hand, the appellant, however, had not submitted any objective or subjective reason why the case in hand should not be heard by videoconference. In the absence of any further submissions by the appellant regarding the format of the oral proceedings, the board had had no reason to (again) change the format of the oral proceedings.
The board rejected the appellant’s request for referral. The first question proposed for referral had already been answered by the Enlarged Board in section C.5 of G 1/21. This section undoubtedly had a general character, despite the judgement essentially being limited to the pandemic (as also acknowledged in T 2432/19). The board held that in the case in hand, it failed to identify a departure from the teaching of G 1/21, and thus a need to (again) refer the first question in order to decide the present case. The posed question thus did not warrant a referral, which would otherwise be of theoretical interest only.
With regard to the second question proposed for referral, the board found that any answer to it depended on the specific case and providing anything more than general instructions would risk compromising the principle of judicial discretion. The board held that, for this reason alone, it could not be regarded as a point of law suitable for being referred to the Enlarged Board.