4.3.9 Angeblich überraschende Entscheidungsbegründung
Unter "Gründe" im Sinne des Art. 113 (1) EPÜ werden die wesentlichen rechtlichen und tatsächlichen Gründe verstanden, auf denen eine Entscheidung beruht (s. Kapitel III.B.2.4.2 "Bedeutung von 'Gründe'" sowie z. B. R 16/13 und R 5/22).
Die Kammern sind zwar nicht verpflichtet, den Beteiligten im Voraus alle Entscheidungsgründe im Einzelnen darzulegen (s. dieses Kapitel V.B.4.3.5), doch verlangt Art. 113 (1) EPÜ, dass Entscheidungen nur auf Gründe gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten. In R 3/13 stellte die Große Beschwerdekammer fest, dies impliziere, dass ein Beteiligter in der Entscheidungsbegründung nicht durch bisher unbekannte Gründe und Beweismittel überrascht werden darf (s. auch R 15/09, R 21/10). Allerdings kann die Anwendung der durch das EPÜ geschaffenen Grundsätze nicht als überraschend angesehen werden (siehe R 9/14, R 1/20).
In R 3/10, R 15/11 und R 16/13 wurde dem Überprüfungsantrag wegen einer überraschenden Begründung, zu der die Beteiligten sich nicht hatten äußern können, stattgegeben (s. dieses Kapitel V.B.4.3.21). Andererseits befand die Große Beschwerdekammer in R 19/11, dass keine Verletzung des rechtlichen Gehörs vorliegen kann, wenn eine Beschwerdekammer nach Anhörung aller Beteiligten im Inter-partes-Verfahren zu ihrer eigenen Schlussfolgerung gelangt, die dann in der schriftlichen Entscheidung festgehalten wird (s. auch R 15/12, R 16/13, R 10/17, R 7/18, R 8/19). In R 8/19 entschied die Große Beschwerdekammer entsprechend, dass die Frage, ob die Bezugnahme der Kammer auf eine objektive technische Aufgabe, die dem Antragsteller gegenüber nie erwähnt worden war, grundsätzlich eine schwerwiegende Verletzung des rechtlichen Gehörs darstellt, nicht generell bejaht werden kann. Nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer muss eine objektive technische Aufgabe, die während des Verfahrens nicht ausdrücklich als solche formuliert und schließlich in der Begründung verwendet wurde, in jedem Fall auf technische Wirkungen (oder ihr Fehlen) und die mit diesen Wirkungen kausal verbundenen Merkmale der Erfindung gestützt werden, zu denen die Parteien Stellung nehmen konnten.
In R 6/18 befand die Große Beschwerdekammer, dass es nicht überraschend sei, wenn die Kammer bei der Entscheidung darüber, ob eine eindeutige Offenbarung der beanspruchten Erfindung vorliegt, nicht nur die vom Antragsteller genannte Passage im engeren Sinn betrachtet, sondern auch die direkt daran anschließenden Sätze. Die Beteiligten müssten sich darüber im Klaren sein, dass die Frage der unzulässigen Erweiterung generell nicht nur anhand isolierter Passagen der Beschreibung entschieden werden kann, sondern eine umfassendere Analyse der Anmeldungsunterlagen erfordert.
In R 10/20 stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass der Antragsteller – auch ohne eine Beanstandung der Kammer der Nichtdurchführung eigener Versuche – Gelegenheit hatte, sich zu den Vergleichsversuchen im Patent mittels Vorlage des Ergebnisses eigener Versuche zu äußern. Die Kammer habe den im Patent gemachten Vergleich für glaubhaft und damit den Beweis für erbracht gehalten. Es habe damit dem Antragsteller oblegen, diesen Beweis durch Vergleichsversuche zu erschüttern. Der geltend gemachte Gehörsverstoß lag der Großen Beschwerdekammer zufolge daher nicht vor.
Mit Verweis auf R 8/13 vom 15. September 2015 date: 2015-09-15 erklärte die Große Beschwerdekammer in R 5/19, dass auch (lediglich) schriftliches Vorbringen welches eines Beteiligten berücksichtigt werden muss und dass das Beschwerdeverfahren hauptsächlich ein schriftliches Verfahren ist. Ein Antragsteller ist nicht verpflichtet, sein schriftliches Vorbringen in der mündlichen Verhandlung zu wiederholen, um dessen Berücksichtigung bei der Entscheidung sicherzustellen.
- R 0011/23
In R 11/23 the petition was based on Art. 112a(2)(c) EPC, i.e. the fundamental violation of Art. 113(1) EPC. It was alleged that the clarity objection against auxiliary request 8, which had led to the board's finding that said request had been unallowable, had never been discussed, neither in the written nor in the oral proceedings, but had been brought forward only in the board's written decision..
Specifically, the petitioner argued that there had been two distinct clarity objections against claim 1 of auxiliary request 8: the alleged lack of clarity regarding what "maintaining currents in an allowable range" meant (the "allowable current range objection") and the alleged lack of information on which components were to be protected by the protective circuit (the "unspecified components objection"). The petitioner acknowledged that it had been heard in the context of the "allowable current range objection" but it asserted that it had been confronted with the "unspecified components objection" only when reading the written decision.
The Enlarged Board held that it did not see any clear indication that the "unspecified components objection" had been raised implicitly, for example as an aspect of an overarching clarity objection..
The Enlarged Board agreed with the petitioner in that it was not sufficient for a relevant specific aspect such as the "unspecified components" to be covered or encompassed by a broader clarity objection that had been discussed if the parties had not been aware of the specific aspect during the discussion. In this context, opponent 2 had referred to paragraph [0018] of the patent which had been mentioned in point 7.4 of the decision under review. The Enlarged Board could not see that such a reference implied that the "unspecified components objection" had been discussed. Furthermore, it did not regard the wording of point 7.5 of said decision as evidence that the "unspecified components objection" had been discussed, because it was not clear whether the phrase "as the appellants and the infringer [sic] correctly argue" was linked to the "unspecified components objection".
According to the Enlarged Board, since it had no power or ability to investigate further whether other facts or indications might suggest that the petitioner could be aware that the board had had doubts about the specific aspect of clarity (namely, the "unspecified component" issue), it had to rely on the parties' submissions in this respect. In the absence of any such indication, it was not for the party alleging a breach of its right to be heard to prove that there had been no such facts or indications (see R 15/11). Any doubts remaining on whether a decision under review was based upon facts and considerations on which the parties had had an opportunity to comment must be solved to the affected party's benefit (see R 2/14).
For these reasons, the Enlarged Board concluded that the "unspecified components objection" had not been discussed during appeal proceedings and its use in the written decision had therefore come as a surprise to the petitioner.
As in the appeal case underlying R 2/14, a broader objection had been discussed during appeal proceedings in the present case but not the specific aspect encompassed by the broader objection that turned out to be decisive for the case. In such cases, the "grounds" as referred to in Art. 113(1) EPC may have a more specific meaning than a broader objection like "lack of clarity" or "insufficiency of disclosure". In the present case, it was irrelevant that the broader clarity objection had been discussed. The critical aspect, namely the question of which components needed to be protected, had not been discussed during the appeal proceedings and the board's conclusion on this aspect had come as a surprise to the petitioner.
The "unspecified components objection" which had not been discussed during the appeal proceedings eventually was the reason for the board's finding that the patent was invalid. The Enlarged Board concluded that a fundamental violation of Art. 113(1) EPC had occurred. The decision under review was thus set aside and the proceedings before a board reopened..
On the latter, the Enlarged Board, referring to Art. 112a(5) and R. 108(3) EPC, explained that the board responsible for the reopened proceedings was not automatically the board which had issued the decision underlying the review proceedings. Rather, the allocation of the reopened proceedings had to be determined in accordance with the business distribution scheme as applicable when the proceedings were reopened.
- R 0012/21
In R 12/21 prüfte die Große Beschwerdekammer (GBK), ob die Kammer entsprechend dem seitens der Antragstellerin geltend gemachten sechsten bis achten Verfahrensmangel gegen das Recht auf rechtliches Gehör verstoßen hatte (Art. 112a (2) c) i.V.m. Art. 113 (1) EPÜ). Diese Mängel betrafen die Nichtzulassung des Hilfsantrags. Die Nichtzulassung des Hilfsantrags wurde in der angefochtenen Entscheidung auf zwei Gründe kumulativ gestützt: Fehlen der Voraussetzungen von Art. 12 (2) VOBK 2007 und eine prima facie fehlende Neuheit des Gegenstands von Anspruch 1 des Hilfsantrags.
Die GBK merkte an, dass zur Frage der Zulassung neuen Vorbringens in einem Teil der Rechtsprechung der GBK zu Art. 112a EPÜ verlangt wird, dass der Beteiligte zu dessen Zulassung (lediglich) ausreichend zu hören ist, nach einem anderen Teil der Rechtsprechung ist darüber hinaus die Ausübung des Ermessens im Rahmen der Zulassung nicht nur auf Willkür, sondern auch auf offensichtliche Unrichtigkeit zu überprüfen (R 6/20). Der GBK zufolge stellte sich vorliegend bereits die Frage, ob die Antragstellerin ausreichend gehört worden war, und darüber hinaus ggf., ob die zutreffenden Rechtsgrundlagen für die Ausübung des Ermessens zu Grunde gelegt und das Ermessen damit nicht offensichtlich unrichtig angewandt worden war. Nur bei positiver Beantwortung beider Fragen könne der Überprüfungsantrag unbegründet sein.
Da die GBK die erste Frage negativ beantwortete und der Überprüfungsantrag aus diesem Grund bereits Erfolg hatte, kam es auf die zweite Frage nicht an. In der Entscheidung der GBK wurde daher lediglich die Frage des ausreichenden Gehörs der Antragstellerin im Hinblick auf die Nichtzulassung des Hilfsantrags vor dem Hintergrund der geltend gemachten fehlenden Möglichkeit, zur prima facie-Neuheit Stellung zu nehmen, erörtert. Den Vortrag der Antragstellerin verstand die GBK dahingehend, dass diese sich bei der Erörterung der Zulassung des Hilfsantrags 1 während der mündlichen Verhandlung nicht zum Aspekt, auf den sich die Kammer in der Entscheidungsbegründung stützte, hatte äußern dürfen, nämlich dazu ob der "hinzugefügte Schritt […] prima facie die Neuheit gegenüber D2 herstellt und damit dem Anspruch zu einer prima facie Gewährbarkeit als Zulassungskriterium unter Art. 13 (1) VOBK 2007 verhilft".
Wenn die Kammer, so die GBK, der Auffassung gewesen wäre, die technische Debatte zum hinzugefügten Merkmal in Anspruch 1 des Hilfsantrags sei bereits im Rahmen des Hauptantrags vollumfänglich geführt worden und eine weitere Debatte im Rahmen des Hilfsantrags überflüssig, hätte die Kammer die Patentinhaberin auf eben diese Auffassung hinweisen und ihr Gelegenheit zur Stellungnahme geben müssen. Dies folge bereits aus dem Wortlaut von Art. 113 (1) EPÜ, wonach Entscheidungen des EPA nur auf Gründe gestützt werden dürfen, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten.
Die GBK kam zu dem Schluss, dass in Ermangelung des vorgenannten ausdrücklichen Ansprechens die Antragstellerin erst der schriftlichen Entscheidung entnehmen konnte, dass die Kammer die Nichtzulassung auch auf eine fehlende prima facie-Neuheit des Gegenstands von Anspruch 1 gestützt hatte. Daher sei der Patentinhaberin auch eine diesbezügliche Rüge nach R. 106 EPÜ nicht möglich gewesen. Sie sei damit daran gehindert gewesen, ihrer grundsätzlich bestehenden Pflicht nachzukommen, von sich aus im Verfahren ihre Interessen aktiv wahrzunehmen.
Im Umstand, dass die Kammer die prima facie-Neuheit des Gegenstands von Anspruch 1 des Hilfsantrags bei der Debatte über die Ausübung des Zulassungs-Ermessens im Rahmen von Art. 13 (1) VOBK 2007 nicht ausdrücklich angesprochen hatte und dazu nicht hatte vortragen lassen, sah die GBK einen schwerwiegenden Verstoß gegen das Recht auf rechtliches Gehör der Patentinhaberin (Art. 113 (1) EPÜ). Es könne nämlich nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass die Ermessensentscheidung im Falle eines Ansprechens und damit einhergehend der Gelegenheit zur Stellungnahme zur prima facie-Neuheit des Gegenstands von Anspruch 1 des Hilfsantrags anders ausgefallen gewesen wäre.