Lösung für das älteste Problem der Mikrobiologie: Kim Lewis und Slava Epstein als Finalisten für den Europäischen Erfinderpreis 2021 nominiert
- US-amerikanische Mikrobiologen für den Preis des Europäischen Patentamtes (EPA) nominiert für eine Vorrichtung zur Züchtung einzelner Mikrobenzellen, die bisher nicht kultivierbar waren
- Die Erfindung trennt neue mikrobielle Zellen und züchtet sie mithilfe eines nährstoffreichen Bodens, der ihrer natürlichen Umgebung entnommen wurde
- Im Ergebnis können Wissenschaftler eine weitaus größere Bandbreite an Mikroben kultivieren, was zur Entdeckung neuer Medikamente gegen sogenannte Superbugs führt, die gegen bestehende Antibiotika resistent sind
München, 4. Mai 2021 - Das Europäische Patentamt (EPA) gibt die Nominierung der US-amerikanischen Mikrobiologen Kim Lewis und Slava S. Epstein für den Europäischen Erfinderpreis 2021 als Finalisten in der Kategorie „Nicht-EPO-Staaten" bekannt. Sie haben ein Verfahren entwickelt, welches es Wissenschaftlern ermöglicht, einzelne Bakterienstämme in ihrer natürlichen Umgebung zu trennen und zu züchten. Ihre „iChip" Erfindung ist ein daumengroßer Plastikchip mit winzigen Löchern, mit dem eine größere Anzahl und Vielfalt von Mikroorganismen im Labor gezüchtet werden kann. Damit wird ein langjähriges Problem in der Mikrobiologie gelöst.
Der iChip hat Forschern dabei geholfen, etwa 80 000 Stränge von zuvor nicht kultivierbaren Organismen zu züchten, was zu über 50 potenziellen Kandidaten für neue Antibiotika geführt hat. Der Erfolg dieser Erfindung ermöglichte es Lewis und Epstein, die beide aus der UdSSR ausgewandert waren, ihre Karriere voranzutreiben und ein Unternehmen zu gründen, das den iChip seit 2010 vermarktet.
„Lewis und Epstein haben eine Lösung geschaffen, die es Wissenschaftlern ermöglicht, auf Mikroorganismen zuzugreifen, die vorher nicht verfügbar waren, und diese zu kultivieren", sagt EPA-Präsident António Campinos bei der Bekanntgabe der Finalisten des Europäischen Erfinderpreises 2021. „Dies könnte Forschern helfen, neue Antibiotika zu finden, Arzneimittelresistenzen zu bekämpfen und letztlich Leben zu retten. Die Mikrobiologen zeigen auch, welche wichtige Rolle Patente dabei spielen, Innovationen auf den Markt zu bringen."
Die Gewinner des jährlichen Innovationspreises des EPA werden am 17. Juni 2021 ab 19 Uhr im Rahmen einer Galaveranstaltung bekannt gegeben, die in diesem Jahr als digitales Event für ein internationales Publikum neu konzipiert wurde.
Problemlösung für eine mikrobiologische Anomalie
Mikrobiologen haben von je her ein Problem: Wie kann das Potenzial von den 99 % der Mikroben erschlossen werden, die nicht im Labor kultivierbar sind? Nur 1 % der mikrobiellen Zellen bilden in einer Petrischale Kolonien, und daraus haben Wissenschaftler praktisch jedes in der modernen Medizin verwendete Antibiotikum abgeleitet. Der übermäßige Einsatz dieser Antibiotika hat jedoch zu Medikamentenresistenzen geführt, die Behandlungen unwirksam machen und Menschen gefährlichen Infektionen aussetzen.
Der Versuch, mehr Bakterien im Labor zu züchten, wurde als unproduktives Arbeitsfeld angesehen. In Anlehnung an einen Begriff aus der Astronomie für eine undurchschaubare Substanz, die möglicherweise den größten Teil des Universums ausmacht, aber nicht gesehen werden kann, schrieben Wissenschaftler die meisten Bakterien als „dunkle Materie" ab. Für Mikrobiologen war es eine Realität, dass die meisten Bakterienstämme im Labor einfach unzugänglich waren.
Ihr Aufwachsen in der ehemaligen Sowjetunion hatte den beiden Erfindern eine andere Perspektive auf die Dinge gegeben. Dieser Hintergrund trug dazu bei, dass sie sich dem Gebiet der Mikrobiologie mit neuen Ideen näherten. Beide arbeiteten an der Universität Moskau und kannten sich vage. Die Wissenschaftler emigrierten unabhängig voneinander in die USA und trafen sich zufällig in den frühen 2000er-Jahren an der Northeastern University in Boston, als sie durch einen gemeinsamen Freund wieder zusammenkamen.
Sie begannen dann gemeinsam daran zu arbeiten, Wege zur Kultivierung neuer Bakterienarten zu finden, da sie davon überzeugt waren, dass nicht nur ein neuer Ansatz nötig war, sondern das Problem auch gelöst werden konnte. Der entscheidende Durchbruch kam, als Epstein und Lewis erkannten, dass die Nährstoffe aus dem natürlichen Boden der Bakterien das entscheidende Element waren, das in herkömmlichen Petrischalen fehlte. Die Schwierigkeit lag jedoch darin, die Bakterienstämme voneinander zu trennen. Im Gegensatz zu reinen Kolonien im Labor vermischen sich Bakterien in der Natur, was es unmöglich macht, einzelne Stämme zu separieren.
Benötigt wurde eine Vorrichtung, mit der einzelne Bakterienstämme in ihrer natürlichen Umgebung, wie z. B. Gartenerde, isoliert und gezüchtet werden können - und damit war das Konzept für den iChip („isolation chip") geboren. Nach einigen Versuchen, bei denen sie das Gerät in der Erde vergruben, um Bakterienproben zu sammeln, entwickelten Lewis und Epstein erfolgreich ihren daumengroßen Prototyp. „Ich bin Optimist", sagt Epstein. „Wenn man sich sicher ist, dass man Herausforderungen meistern wird, dann wird der Umgang mit diesen Herausforderungen wirklich spannend."
Der Chip fängt einzelne Mikrobenzellen ein und setzt sie durch eine Membran aus Polycarbonat, die sehr dünne Poren von 20 bis 30 Nanometern hat, dem nährstoffreichen Boden aus. Dadurch entsteht ein Effekt, der an eine Supermarkt-Plastiktüte mit winzigen Löchern erinnert. Die Bakterienzellen werden in Kompartimenten isoliert und mit Nährstoffen aus dem Boden versorgt, die die Membran passieren können.
2002 vermeldeten Epstein und Lewis für ihre neue Vorrichtung im Vergleich zu einer herkömmlichen Petrischale ein 300-fach erhöhtes Bakterienwachstum. Im selben Jahr das Forscherduo ein europäisches Patent für ein Verfahren zur Isolierung und Kultivierung von Mikroorganismen an, das 2008 erteilt wurde.
2003 gründeten Lewis und Epstein die NovoBiotic Pharmaceuticals, LLC, um den iChip auf den Markt zu bringen. Der offizielle Launch des iChip war 2010. „Ohne Patentanmeldungen hätten wir kein Unternehmen gründen können", sagt Lewis. „Investoren fragen als erstes nach Vermögenswerten und das Einzige, was uns gehörte, war unser geistiges Eigentum."
Werkzeug zur Entwicklung der nächsten Generation von Antibiotika
Seit seiner Einführung hat der iChip von Lewis und Epstein Forschern geholfen, potenzielle Kandidaten für neue Antibiotika zu entwickeln. Dazu gehört Teixobactin, die erste neue Klasse von Antibiotika, die seit Jahrzehnten vermeldet wurde. Das Unternehmen der Erfinder führt derzeit Studien zu Teixobactin durch. Laut Lewis wird das den Start von Phase-I-Studien im Jahr 2022 ermöglichen.
Der Erfolg des iChips und die inspirierende Geschichte der Erfinder um ihre Auswanderung und Zusammenarbeit an der Northeastern University hat die beiden bekannt gemacht. Die in Epsteins Uni-Labor entwickelten Kultivierungswerkzeuge wurden vom Discover Magazine in eine Liste von Top 100 Entdeckungen gewählt.
Für Epstein war die Gründung eines privatwirtschaftlichen Unternehmens der beste Weg, um Ergebnisse zu erzielen. Ihr iChip ist keine rein akademische Arbeit, sondern ein praktisches Werkzeug, das auf aktuelle Bedürfnisse zugeschnitten ist. Daher teilen sich beide weiterhin ihre Zeit zwischen ihrer akademischen Tätigkeit und der Beratung bei iChip-bezogenen Projekten auf.
Antibiotikaresistenz stellt eine kritische Gesundheitsbedrohung dar. Ohne eine neue Generation von Antibiotika könnten die sogenannten Superbugs bis zum Jahr 2050 bis zu 10 Millionen Menschenleben pro Jahr fordern. Der globale Markt für klinische Mikrobiologie wurde 2016 auf 8,3 Mrd. EUR geschätzt, und es wird erwartet, dass er bis 2025 mit einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate von 6,7 % auf 15,2 Mrd. EUR anwächst. Das Unternehmen von Lewis und Epstein ist gut aufgestellt, um in diesem Umfeld eine Schlüsselrolle zu spielen.
Ihre Erfindung ist auch ein hervorragendes Beispiel dafür, wie eine Low-Tech-Lösung wissenschaftliche Praktiken verändern kann und letztlich den Menschen Vorteile bringt. Da er es Forschern ermöglicht, Bakterien zu isolieren und zu erforschen, trägt der iChip nicht nur dazu bei, die antimikrobielle Resistenz zu bekämpfen, sondern hat auch das Potenzial, die Entwicklung von Medikamenten zur Behandlung anderer Krankheiten zu unterstützen, wie zum Beispiel Krebsmedikamente, Entzündungshemmer und Immunsuppressiva.
Hinweise an die Redaktionen
Informationen
zu den Erfindern
Kim Lewis ist „University Distinguished Professor"
für Biologie und Direktor des von ihm gegründeten Antimicrobial Discovery
Center der Northeastern University. Er wurde 1953 in New York geboren und zog
mit seiner Mutter nach Russland. Dort studierte er Biologie und promovierte
1980 an der Universität Moskau in Biochemie. 1984 verlor er seine akademische
Position an der Moskauer Universität, nachdem er sich um die Auswanderung in
die USA beworben hatte. Ein Schwerpunkt seiner aktuellen Forschung liegt auf
der antimikrobiellen Toleranz, die die Fähigkeit von Antibiotika zur Beseitigung
von Infektionen einschränkt, sowie auf der Entwicklung antimikrobieller
Medikamente. Lewis ist Fellow der
American Academy of Microbiology sowie der American Association for the
Advancement of Science (AAAS).
Slava S. Epstein stammt aus Russland und wanderte 1989 in die USA aus. 1991 begann er seine Laufbahn als Assistant Scientist an der University of Wisconsin, bevor er 1992 Dozent und Senior Scientist an der Northeastern University (NU) wurde. Nach Stationen als Juniorprofessor und außerordentlicher Professor wurde er 2008 Professor an der NU. Diese Position hat er bis heute inne. 2015 nannte das Foreign Policy Magazine Dr. Epstein einen der „100 World's Leading Global Thinkers". Er beschreibt sich selbst als Optimist und sagt, dass die Schwierigkeiten, die sich aus der Auswanderung mit einer neuen Sprache und Assimilation ergaben, einfach Herausforderungen waren, die es zu überwinden galt.
Lewis und Epstein halten zwei europäische Patente, EP1456401 und EP1999248, die 2008 bzw. 2012 erteilt wurden.
Über den Europäischen Erfinderpreis
Der Europäische
Erfinderpreis ist einer der
renommiertesten Innovationspreise Europas. Er wurde 2006 vom EPA ins Leben
gerufen und ehrt einzelne Erfinder und Erfinderteams, deren wegweisende
Innovationen Antworten auf einige der größten Herausforderungen unserer Zeit
geben. Die Finalisten und Gewinner werden von einer unabhängigen Jury bestehend aus internationalen Experten aus
Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Akademie und Forschung ausgewählt. Sie prüft
die Vorschläge hinsichtlich ihres Beitrags zum technischen Fortschritt, zur
gesellschaftlichen Entwicklung, zum wirtschaftlichen Wohlstand und zur Schaffung
von Arbeitsplätzen in Europa. Der Preis wird in fünf Kategorien (Industrie,
Forschung, KMU, Nicht-EPO Staaten und Lebenswerk) verliehen. Der Gewinner des Publikumspreises
wird von der Öffentlichkeit aus den 15 Finalisten über ein Online-Voting
ermittelt.
Über das EPA
Mit 6 400 Bediensteten ist das Europäische
Patentamt (EPA) eine der größten Behörden in Europa. Das EPA, das
seinen Hauptsitz in München sowie Niederlassungen in Berlin, Brüssel, Den Haag
und Wien hat, wurde mit dem Ziel gegründet, die Zusammenarbeit zwischen den
Staaten Europas auf dem Gebiet des Patentwesens zu stärken. Dank des
zentralisierten Verfahrens vor dem EPA können Erfinder hochwertigen
Patentschutz in bis zu 44 Staaten erlangen, die zusammen einen Markt von rund
700 Millionen Menschen umfassen. Außerdem ist das EPA weltweit führend in den
Bereichen Patentinformation und Patentrecherche.
EPA-Pressekontakt
Luis
Berenguer Giménez
Hauptdirektor Kommunikation, Sprecher
Tel.: +49 89
2399 1203