1. Rechtlicher Status der Beschwerdekammern des EPA
1.1. Institutionelle Struktur der Europäischen Patentorganisation
In G 3/08 date: 2010-05-12 (ABl. 2011, 10) stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass mit der Europäischen Patentorganisation eine auf dem Gewaltenteilungsprinzip beruhende zwischenstaatliche internationale Organisation geschaffen worden ist, der die souveränen Vertragsstaaten auf dem Gebiet des Patentwesens einen Teil ihrer staatlichen Gewalt zur Ausübung anvertraut haben. Das EPÜ verleiht dem Amt die Exekutivgewalt, Patente zu erteilen, und dem Präsidenten, das Amt organisatorisch zu verwalten (Art. 4 (3) und 10 EPÜ, s. auch G 5/88, ABl. 1991, 137), während es dem Verwaltungsrat ein auf nachgeordnete Normen beschränktes Legislativrecht (Art. 33 EPÜ) sowie Finanz- und Kontrollbefugnisse überträgt. Den in ihrer Entscheidungsbefugnis allein an das EPÜ gebundenen Beschwerdekammern (Art. 23 (3) EPÜ) ist die Rolle einer unabhängigen Gerichtsbarkeit in diesem Patentsystem zugewiesen (Art. 21 bis 23 EPÜ; s. auch G 6/95, ABl. 1996, 649, Nrn. 2 ff. der Gründe), wenngleich sie kein selbstständiges Organ der Europäischen Patentorganisation (Art. 4 (2) EPÜ) sind, sondern Organe des Amts (Art. 15 EPÜ; s. auch R 19/12 vom 25. April 2014 date: 2014-04-25 und R 2/14 vom 17. Februar 2015 date: 2015-02-17). Die Große Beschwerdekammer führte weiter aus, dass die Beschwerdekammern des EPA die Rechtsweggarantie innerhalb der Europäischen Patentorganisation wie die Gerichtsbarkeit eines jeden auf dem Prinzip der Gewaltenteilung beruhenden rechtsstaatlichen Gemeinwesens gewährleisten. Dazu ist ihnen die Deutungshoheit hinsichtlich des EPÜ für dessen Geltungsbereich anvertraut (vgl. auch Art. 23 (3) EPÜ). Nach Art. 21 (1) EPÜ haben sie die im Erteilungs- und im Einspruchsverfahren ergangenen Entscheidungen des Amts zu überprüfen. Ihre Auslegung des EPÜ hat das Amt seiner Praxis bei der Prüfung von Patentanmeldungen und Einsprüchen gegen erteilte Patente zugrunde zu legen.
Auf der 148. Tagung des Verwaltungsrats der Europäischen Patentorganisation (München, 29. und 30. Juni 2016) genehmigte der Rat die Reform der Beschwerdekammern, s. CA/43/16 rev. 1 vom 30. Juni 2016 (Reform der Beschwerdekammern); CA/D 6/16 vom 30. Juni 2016, ABl. 2016, A100 (Beschluss des Verwaltungsrats zur Änderung der Ausführungsordnung zum Europäischen Patentübereinkommen); CA/D 7/16 vom 30. Juni 2016, ABl. 2016, A101 (Beschluss des Verwaltungsrats zur Einsetzung eines Beschwerdekammerausschusses und zum Erlass seiner Geschäftsordnung). Ziel der Reform war es, die organisatorische und managementbezogene Autonomie der Beschwerdekammern zu stärken sowie die Wahrnehmung ihrer Unabhängigkeit und ihre Effizienz zu erhöhen. Einer Revision des EPÜ bedurfte es nicht. Seit Inkrafttreten der Reform sind die Beschwerdekammern und die Große Beschwerdekammer einschließlich ihrer Geschäftsstellen und Unterstützungsdienste als gesonderte Einheit organisiert und werden vom Präsidenten der Beschwerdekammern geleitet.
Die Übertragung von Aufgaben und Befugnissen vom Präsidenten des Amtes an den Präsidenten der Beschwerdekammern ist im Amtsblatt (ABl. 2018, A63) veröffentlicht.