2. Das Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge
2.1. Anwendung des Wiener Übereinkommens auf die Auslegung des EPÜ
Die Europäische Patentorganisation ist keine Vertragspartei des Wiener Übereinkommens. Darüber hinaus können die Bestimmungen des Wiener Übereinkommens, wie die Große Beschwerdekammer in G 5/83 feststellte, nicht unmittelbar auf das EPÜ angewendet werden, da das Wiener Übereinkommen ausschließlich auf Übereinkommen Anwendung findet, die nach dem Inkrafttreten des Wiener Übereinkommens geschlossen worden sind (Art. 4 Wiener Übereinkommen). Bei Abschluss des EPÜ war das Wiener Übereinkommen noch nicht in Kraft. Es gibt jedoch überzeugende Entscheidungen, die die Auslegungsregeln des Wiener Übereinkommens auf Verträge anwenden, für die es nicht unmittelbar gilt (s. auch G 2/12, G 2/13; Nr. 4 der Gründe). So hat der Internationale Gerichtshof Grundsätze des Wiener Übereinkommens auf Sachverhalte angewendet, die nicht unmittelbar unter das Wiener Übereinkommen fallen. Ferner haben der EGMR, das deutsche Bundesverfassungsgericht und das House of Lords (England) die Auslegungsgrundsätze der Art. 31 und 32 Wiener Übereinkommen auf Verträge angewendet, auf die sie, strenggenommen, nicht anwendbar sind. Nach eingehenden Überlegungen kam die Große Beschwerdekammer zu dem Schluss, dass das EPA ebenso verfahren sollte.
In J 8/82 (ABl. 1984, 155) urteilte die Juristische Beschwerdekammer, dass Art. 31 und 32 Wiener Übereinkommen anerkanntermaßen lediglich bestehendes Völkerrecht kodifizierten. In J 10/98 (ABl. 2003, 184) stellte die Juristische Beschwerdekammer fest, auch wenn das Wiener Übereinkommen nicht ausdrücklich für die Auslegung des EPÜ, des PCT oder der PVÜ gelte, weil es später in Kraft getreten sei als diese Verträge, seien seine Auslegungsregeln gemäß den Feststellungen der Großen Beschwerdekammer in der Entscheidung G 1/83 doch ein wertvoller Hinweis für die Auslegung aller davor und danach geschlossenen Verträge. In T 1173/97 (ABl. 1999, 609) stellte die Kammer fest, obwohl das Wiener Übereinkommen auf das EPÜ keine Anwendung finde, habe es großes Gewicht und sei von den Beschwerdekammern oft zitiert worden, wenn dort verankerte Grundsätze angewandt worden seien. S. auch J 7/21 und T 695/18.