G 0002/98 (Erfordernis für die Inanspruchnahme einer Priorität für "dieselbe Erfindung") 31-05-2001
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Auslegung des Begriffs "derselben Erfindung" in Artikel 87 (1) EPÜ
Auslegung im Einklang mit der PVÜ und dem EPÜ
Auslegung in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit sowie in Einklang mit den Grundsätzen für die Beurteilung von Neuheit und erfinderischer Tätigkeit
Sachverhalt und Anträge
I. Der Präsident des EPA hat der Großen Beschwerdekammer am 29. Juli 1998 in Ausübung seiner Befugnis nach Artikel 112 (1) b) EPÜ die folgende Rechtsfrage vorgelegt:
"1a. Bedeutet das Erfordernis "derselben Erfindung" in Artikel 87 (1) EPÜ, daß der Umfang des Prioritätsrechts, das eine frühere Anmeldung für eine spätere Anmeldung begründet, sich danach bestimmt und zugleich auch darauf beschränkt, was in der früheren Anmeldung zumindest implizit offenbart ist?
1b. Oder kann in diesem Zusammenhang auch ein geringerer Grad an Übereinstimmung zwischen dem Gegenstand der früheren Anmeldung und demjenigen der späteren Anmeldung ausreichen, um ein Prioritätsrecht zu begründen?
2. Falls die Frage 1b bejaht wird: Nach welchen Kriterien ist zu beurteilen, ob sich der Anspruch in der späteren Anmeldung auf dieselbe Erfindung wie in der früheren Anmeldung bezieht?
3. Begründet die frühere Anmeldung insbesondere auch dann ein Prioritätsrecht, wenn der betreffende Anspruch der späteren Anmeldung Merkmale enthält, die in der früheren Anmeldung nicht - auch nicht implizit - offenbart waren, oder wenn Merkmale in der früheren Anmeldung weiter gefaßt waren und in der späteren Anmeldung genauer oder enger definiert sind? Wenn ja, welche Kriterien müssen erfüllt sein, damit die Priorität in diesen Fällen begründet ist?"
II. In der Begründung seiner Vorlage verwies der Präsident auf divergierende Entscheidungen der Beschwerdekammern zur obengenannten Rechtsfrage und brachte im wesentlichen die nachstehenden Argumente vor.
i) Das EPA sei traditionell davon ausgegangen, daß der Umfang des Rechts auf Inanspruchnahme der Priorität einer früher eingereichten ersten Anmeldung sich danach bestimme und darauf beschränke, inwieweit der in der späteren Anmeldung beanspruchte Gegenstand zumindest implizit in der ersten Anmeldung offenbart sei (vgl. Entscheidungen T 116/84 vom 28. November 1984 [nicht im ABl. EPA veröffentlicht], Nr. 2 der Entscheidungsgründe; T 184/84 vom 4. April 1986 [nicht im ABl. EPA veröffentlicht], Nrn. 2 und 3 der Entscheidungsgründe; T 85/87 vom 21. Juli 1988 [nicht im ABl. EPA veröffentlicht], Nrn. 3 und 4 der Entscheidungsgründe; T 295/87 "Polyetherketone/ICI" [ABl. EPA 1990, 470], Nrn. 6.2 und 6.4 der Entscheidungsgründe).
ii) Diese Prinzipien seien nicht nur dort für anwendbar gehalten worden, wo die Ansprüche der späteren Anmeldung gegenüber dem Offenbarungsgehalt der früheren Anmeldung erweitert worden seien, sondern auch dort, wo der Schutzumfang der Erfindung in der europäischen Patentanmeldung enger definiert worden sei als in der breiteren Offenbarung der früheren Anmeldung. Gemäß dieser Rechtsprechung habe das Kriterium einer zumindest impliziten Offenbarung, das beim Neuheitstest nach Artikel 54 (2) und (3) EPÜ und beim Offenbarungstest nach Artikel 123 (2) EPÜ angelegt werde, auch in den Fällen als anwendbar gegolten, in denen die Ansprüche der europäischen Patentanmeldung gegenüber der Offenbarung der Erfindung in der Prioritätsanmeldung ein oder mehrere zusätzliche Merkmale enthielten oder in denen Merkmale genauer definiert seien als in der allgemeineren Offenbarung der Prioritätsanmeldung. Dabei habe man es als unerheblich angesehen, ob es sich bei den zuvor nicht offenbarten, hinzugefügten Merkmalen um wesentliche Bestandteile der beanspruchten Erfindung gehandelt habe oder nicht, es sei aber stets klar gewesen, daß die Priorität nicht in Anspruch genommen werden könne, wenn wesentliche Merkmale der Erfindung in der Prioritätsanmeldung fehlten oder umgekehrt in der Prioritätsanmeldung enthaltene wesentliche Merkmale in der europäischen Patentanmeldung weggelassen würden.
iii) Diesem Ansatz habe die Überlegung zugrunde gelegen, daß laut EPÜ das Recht eines Anmelders auf Patentschutz sowie dessen Grenzen entscheidend vom Offenbarungsgehalt einer an einem bestimmten Tag eingereichten Anmeldung abhingen. Nach Artikel 60 (2) EPÜ stehe das Recht auf das europäische Patent demjenigen zu, dessen Patentanmeldung den früheren Anmeldetag habe, und nicht demjenigen, der die Erfindung zuerst gemacht habe. Nach Artikel 54 (3) EPÜ gelte eine solche Anmeldung gegenüber einer späteren Anmeldung als Stand der Technik, selbst wenn der spätere Anmelder eigentlich der Ersterfinder gewesen sei. Gemäß Artikel 123 (2) EPÜ sei der Patentschutz, der einem Anmelder gewährt werden könne, durch das bestimmt und auf das beschränkt, was in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung, also am Anmeldetag, offenbart werde. Deshalb sollte aus traditioneller Sicht dasselbe auch für die Bestimmung des Umfangs eines durch eine erste Anmeldung begründeten Prioritätsrechts gelten. Diesen Grundsatz habe man in Artikel 88 (3) EPÜ verankert gesehen, dem zufolge bei Inanspruchnahme einer oder mehrerer Prioritäten das Prioritätsrecht nur die Merkmale [Englisch: elements; Französisch: éléments] umfasse, die in der Anmeldung oder den Anmeldungen enthalten seien, deren Priorität in Anspruch genommen worden sei. Artikel 88 (4) EPÜ sei im selben Sinne verstanden worden.
iv) In der Entscheidung T 73/88 "Snack-Produkt/HOWARD" (ABl. EPA 1992, 557) sei hingegen die Priorität einer früher eingereichten älteren Anmeldung für einen Hauptanspruch anerkannt worden, obwohl dieser ein (zusätzliches) technisches Merkmal enthalten habe, das in der Prioritätsanmeldung nicht offenbart gewesen sei. Es sei entschieden worden, daß das Merkmal nicht mit der Funktion und der Wirkung der Erfindung und somit auch nicht mit ihrem Wesen und ihrer Art in Zusammenhang stehe. Sein Fehlen in der Offenbarung der Prioritätsunterlage habe demnach keinen Prioritätsverlust zur Folge, sofern sich der Anspruch ansonsten im wesentlichen auf dieselbe Erfindung beziehe, die auch in der Prioritätsunterlage offenbart sei. Ein technisches Merkmal, das für die Bestimmung des Schutzumfangs wesentlich sei (d. h. das Schutzbegehren einschränke), sei nicht zwangsläufig auch für die Feststellung der Priorität wesentlich. Ob ein bestimmtes Merkmal für Prioritätszwecke wesentlich sei und deshalb in der Prioritätsunterlage konkret offenbart sein müsse, hänge davon ab, in welchem Zusammenhang es zum Wesen und zur Art der Erfindung stehe. Stelle beispielsweise ein technisches Merkmal eine besondere Ausführungsform eines in der Prioritätsunterlage mehr allgemein offenbarten Merkmals dar, dann führe dies nicht zum Prioritätsverlust, sofern durch dieses besondere technische Merkmal das Wesen und die Art der beanspruchten Erfindung nicht verändert werde. Außerdem sei es für die Ermittlung der Priorität grundsätzlich unerheblich, aus welchem Grund das Merkmal in die Ansprüche der europäischen Patentanmeldung aufgenommen worden sei, also ob es z. B. zur Begründung der Neuheit des beanspruchten Gegenstands gegenüber dem Stand der Technik diene. Ein Ansatz, bei dem es nur darauf ankomme, ob das beanspruchte Merkmal in der Prioritätsunterlage deutlich (wenn auch implizit) offenbart worden sei, sei für die Bestimmung des Prioritätsrechts zu eng und zu wörtlich und entspreche nicht dem Erfordernis des Artikels 87 (1) EPÜ.
Dieser Entscheidung seien dann andere gefolgt, die sie bestätigt hätten, zum Beispiel die Entscheidungen T 16/87 "Katalysator/PROCATALYSE" (ABl. EPA 1992, 212), T 582/91 vom 11. November 1992 (nicht im ABl. EPA veröffentlicht), T 255/91 "Priorität/AIR PRODUCTS AND CHEMICALS" (ABl. EPA 1993, 318), T 669/93 vom 13. Februar 1995 (nicht im ABl. EPA veröffentlicht), T 1056/93 vom 16. Januar 1996 (nicht im ABl. EPA veröffentlicht) und T 364/95 vom 20. November 1996 (nicht im ABl. EPA veröffentlicht). In der Sache T 16/87 habe die Patentinhaberin eingeräumt, daß das hinzugefügte Merkmal nur zur besseren Abgrenzung gegenüber einem älteren nationalen Recht aufgenommen worden sei. In den Entscheidungen T 582/91 und T 364/95 sowie in T 73/88 sei das hinzugefügte Merkmal lediglich als "freiwillige" Beschränkung des Schutzbereichs des Anspruchs und nicht als wesentlicher Bestandteil des Anspruchsgegenstands gewertet worden. Außerdem sei die Wirksamkeit des Prioritätsanspruchs davon abhängig gemacht worden, ob dem geänderten oder präzisierten Merkmal eine bestimmte Wirkung oder Funktion zugeschrieben werden könne.
v) In anderen Entscheidungen werde von den Beschwerdekammern nach wie vor der traditionelle Ansatz - der sogenannte "Neuheitstest" - angewandt. Der Begriff "Neuheitstest" diene als Schlagwort, um diesen Ansatz vom Konzept der Entscheidung T 73/88 zu unterscheiden. Diese Methode, die Wirksamkeit einer beanspruchten Priorität zu prüfen, entspreche jedoch nicht in jeder Hinsicht der Neuheitsprüfung, die durchgeführt werde, wenn die Prioritätsunterlage Stand der Technik für den betreffenden Anspruch sei. Es könne durchaus Fälle geben - etwa wenn der Anspruch in der späteren Anmeldung breiter gefaßt sei als die spezifischere Offenbarung der Prioritätsanmeldung -, in denen der Anspruch gegenüber der spezifischeren Offenbarung der Prioritätsunterlage zwar nicht neu sei, eine Priorität für den breiter gefaßten Anspruch in der späteren Anmeldung aber dennoch nicht wirksam beansprucht werden könne (vgl. z. B. die Entscheidung T 77/97 vom 3. Juli 1997 [nicht im ABl. EPA veröffentlicht], Nrn. 6.4 und 6.5 der Entscheidungsgründe).
Unter dem Begriff "Neuheitstest" sei daher eigentlich ein "Offenbarungstest" zu verstehen: Damit man prüfen könne, ob die beanspruchte Priorität wirksam sei, müsse nämlich der explizite und implizite Offenbarungsgehalt der Prioritätsanmeldung ermittelt werden.
vi) Die Stellungnahme G 3/93 "Prioritätsintervall" der Großen Beschwerdekammer (ABl. EPA 1995, 18) lasse darauf schließen, daß für die Große Beschwerdekammer eine beanspruchte Kombination der Merkmale A+B+C eine andere Erfindung darstelle als eine Kombination, die nur die Merkmale A+B enthalte, unabhängig davon, welcher Art das hinzugefügte Merkmal sei.
vii) In der Entscheidung T 77/97 sei festgestellt worden, daß der Begriff "derselben Erfindung" in Artikel 87 (1) EPÜ im Einklang mit Artikel 88 (2) bis (4) EPÜ ausgelegt werden müsse, insbesondere mit dem Erfordernis des Artikels 88 (4) EPÜ, wonach die Merkmale [Englisch: elements; Französisch: éléments], für die die Priorität in Anspruch genommen werde, in (der Gesamtheit) der Prioritätsunterlage deutlich offenbart sein müßten. Daher müßten bei einem abhängigen Anspruch, der durch zusätzliche, im dazugehörigen unabhängigen Anspruch nicht enthaltene Anspruchsmerkmale gekennzeichnet sei, auch diese zusätzlichen Anspruchsmerkmale deutlich offenbart sein. Es reiche nicht aus, daß der Anspruch im Sinne des Artikels 83 EPÜ durch die Offenbarung der Prioritätsunterlage gestützt werde. Erst recht reiche es nicht aus, daß die allgemeinere Offenbarung der Prioritätsunterlage den spezifischen abhängigen Anspruch mit umfasse. Maßgebend für die Anerkennung des Prioritätsanspruchs sei vielmehr das Kriterium der zumindest impliziten Offenbarung in der Prioritätsunterlage. Die Regeln zur Feststellung einer solchen impliziten Offenbarung seien in allen Fällen, in denen es eine implizite Offenbarung zu bestimmen gelte, dieselben und müßten unabhängig von der Art des betreffenden Dokuments zum selben Ergebnis führen.
III. Um die Bedeutung der der Großen Beschwerdekammer vorgelegten Rechtsfrage zu unterstreichen, machte der Präsident des EPA im wesentlichen folgendes geltend.
i) Die Antwort auf die der Großen Beschwerdekammer vorgelegte Rechtsfrage habe große Tragweite nicht nur für den Anmelder, der die Priorität einer oder mehrerer früherer Anmeldungen in Anspruch nehmen wolle, sondern auch für Dritte, die von dem der europäischen Patentanmeldung zuerkannten Prioritätstag tangiert würden. Dies gelte insbesondere für die Anmelder möglicherweise kollidierender Anmeldungen.
ii) Das in der Entscheidung T 73/88 genannte Argument, daß ein Patentinhaber sein Prioritätsrecht nicht verlieren solle, nur weil er den Schutzbereich gegenüber der Offenbarung der Prioritätsunterlage eingeschränkt habe (vgl. Nr. 2.4 der Entscheidungsgründe), sei einleuchtend. Die Anwendung dieses Ansatzes könnte aber auch von Nachteil für den Anmelder sein, wenn er im Falle zweier nationaler Voranmeldungen die Prioritätsfrist der späteren nutze, die genau das als spezifische Offenbarung enthalte, was er dann in seiner europäischen Anmeldung beanspruche. Die Definition des Begriffs derselben Erfindung sei nämlich auch für die Prüfung der Frage von Bedeutung, welche von zwei oder mehr früheren Anmeldungen die erste Anmeldung für dieselbe Erfindung im Sinne des Artikels 87 (1) EPÜ darstelle.
iii) Artikel 54 (3) EPÜ basiere auf dem Grundsatz, daß dann, wenn zwei Anmeldungen denselben Gegenstand beträfen, das Recht auf das Patent derjenigen Anmeldung zustehe, die diesen Gegenstand als erste offenbart habe. Ob eine europäische Patentanmeldung als Stand der Technik gelte, der der Patentierbarkeit einer anderen Anmeldung nach Artikel 54 (3) EPÜ entgegenstehe, sei also ausschließlich unter Neuheitskriterien zu entscheiden. Wenn nun laut Artikel 89 EPÜ eine wirksam in Anspruch genommene Priorität auch in bezug auf Artikel 54 (3) EPÜ berücksichtigt werden müsse, so sei dies eindeutig nur insofern und insoweit mit Artikel 54 (3) EPÜ in Einklang zu bringen, als der Gegenstand tatsächlich bereits in der Prioritätsunterlage offenbart worden sei.
iv) Wenn es zu ermitteln gelte, welche von zwei europäischen Patentanmeldungen den früheren Stichtag habe, komme es in vielen Fällen entscheidend darauf an, ob die Priorität materiellrechtlich gesehen wirksam in Anspruch genommen worden sei. Der Ansatz in T 73/88 mache dies von der Frage abhängig, ob das hinzugefügte Merkmal wesentlich sei. Eine weite Auslegung des Begriffs "derselben Erfindung" gemäß diesem Ansatz könne jedoch zu einem ungerechtfertigten Ergebnis führen. So könnte es dazu kommen, daß auf eine europäische Patentanmeldung A ein europäisches Patent erteilt und eine später eingereichte europäische Patentanmeldung B, die denselben Gegenstand beanspruche, zurückgewiesen werde, obwohl die Voranmeldung, deren Priorität die spätere europäische Patentanmeldung B beanspruche, eigentlich die erste Anmeldung gewesen sei, die den beanspruchten Gegenstand offenbart habe.
v) Nach dem Aufgabe-Lösungs-Ansatz sei die durch die jeweilige Erfindung gelöste Aufgabe objektiv zu definieren, indem man feststelle, welchen Beitrag die Erfindung zum Stand der Technik leiste. Daher könne die durch die Erfindung objektiv gelöste Aufgabe nicht irgendwann ein für allemal ermittelt werden. Vielmehr könne es durchaus sein, daß sie im Zuge der Bearbeitung der Anmeldung und auch noch danach, wann immer ein nachträglich entdeckter, neuer Stand der Technik zu berücksichtigen sei, erheblich umformuliert werden müsse. Was einmal ein unwesentlicher Nebeneffekt der beanspruchten Erfindung zu sein schien, erweise sich vielleicht später als (eigentlicher) Beitrag der Erfindung zum Stand der Technik. Selbst ohne neuen Stand der Technik könnten sich die Definition der objektiv gelösten Aufgabe und das Urteil darüber, ob bestimmte Merkmale wesentlich seien, im Laufe des Verfahrens drastisch ändern. Somit könne - ebenso wie die Neuheit und die erfinderische Tätigkeit - auch die Wirksamkeit der in Anspruch genommenen Priorität während der gesamten Lebensdauer eines Patents insbesondere auf der Basis eines neuen Stands der Technik angefochten werden, solange die Verfahren dies zuließen.
Als besonders akut sei dieses Problem in sehr fortschrittsträchtigen technischen Bereichen wie der Biotechnologie anzusehen, wo oftmals viele Forscher auf dieselben Ziele hinarbeiteten und jegliche Verbesserung sofort zum Patent angemeldet werde.
vi) Bei der Auslegung der Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums (PVÜ), insbesondere des Artikels 4 A (1), gehe man im allgemeinen davon aus, daß die spätere Anmeldung denselben Gegenstand betreffen müsse wie die erste Anmeldung, die das Prioritätsrecht begründe.
IV. Von Dritten wurden gemäß Artikel 11b der Verfahrensordnung der Großen Beschwerdekammer mehrere Stellungnahmen eingereicht. In bezug auf das in Artikel 87 (1) EPÜ verankerte Erfordernis "derselben Erfindung" lassen diese Stellungnahmen zwei unterschiedliche Auffassungen erkennen. Auf der einen Seite wird vorgebracht, daß für einen Anspruch einer europäischen Patentanmeldung, der ein in der Prioritätsanmeldung nicht offenbartes Merkmal enthält, ein Prioritätsrecht anerkannt werden kann, wenn das Merkmal nicht mit der Funktion und der Wirkung der beanspruchten Erfindung in Zusammenhang steht und keinen zusätzlichen technischen Beitrag zur Erfindung leistet. Auf der anderen Seite wird argumentiert, daß für einen solchen Anspruch auf der Grundlage des Artikels 4 F PVÜ ein Prioritätsrecht anerkannt werden kann, wenn zwischen der Erfindung, wie sie in dem Anspruch definiert ist, und dem in der Prioritätsanmeldung offenbarten Gegenstand Einheitlichkeit der Erfindung gegeben ist.
Entscheidungsgründe
1. In der Entscheidung T 73/88 (vgl. vorstehend Nr. II iv)) wurde die Priorität einer früher eingereichten ersten Anmeldung für einen Anspruch anerkannt, obwohl dieser ein in der Prioritätsanmeldung nicht offenbartes zusätzliches Merkmal enthielt. In einigen Entscheidungen, die nach Erlaß der Entscheidung T 73/88 und ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt des EPA ergangen sind, insbesondere in T 311/93 vom 16. Januar 1997 (nicht im ABl. EPA veröffentlicht) und T 77/97 (vgl. vorstehend Nr. II v)), haben die Beschwerdekammern jedoch bei der Prüfung, ob eine Priorität wirksam beansprucht wurde, weiterhin das Kriterium der zumindest impliziten Offenbarung angewandt, das für den Offenbarungstest nach Artikel 123 (2) EPÜ verwendet wird. Das bedeutet, daß es zu der Rechtsfrage, die der Präsident des EPA der Großen Beschwerdekammer vorgelegt hat, - wie in Artikel 112 (1) b) EPÜ vorgesehen - voneinander abweichende Entscheidungen gibt. Die Vorlage ist somit zulässig.
2. Zur Beantwortung der Vorlagefrage 1a, ob der Begriff "derselben Erfindung" in Artikel 87 (1) EPÜ bedeutet, daß der Umfang des Prioritätsrechts, das eine frühere Anmeldung für eine spätere Anmeldung begründet, sich danach bestimmt und zugleich auch darauf beschränkt, was in der früheren Anmeldung zumindest implizit offenbart ist, muß zunächst geprüft werden, ob eine enge Auslegung dieses Begriffs, die ihn mit dem Begriff "desselben Gegenstands" in Artikel 87 (4) EPÜ gleichsetzt, mit den einschlägigen Vorschriften der PVÜ und des EPÜ in Einklang steht. Aus einer solchen engen Auslegung ergibt sich das Erfordernis, daß der Gegenstand eines Anspruchs, der die Erfindung in der europäischen Patentanmeldung definiert, d. h. die spezifische Merkmalskombination in diesem Anspruch, zumindest implizit in der Anmeldung offenbart sein muß, deren Priorität beansprucht wird.
3. Das EPÜ stellt laut seiner Präambel ein Sonderabkommen im Sinne des Artikels 19 PVÜ dar. Es liegt somit auf der Hand, daß die Artikel 87 bis 89 EPÜ, die eine vollständige und eigenständige Regelung des Rechts bilden, das bei der Beanspruchung von Prioritäten für europäische Patentanmeldungen anzuwenden ist (vgl. Entscheidung J 15/80, ABl. EPA 1981, 213), den in der PVÜ festgelegten Prioritätsgrundsätzen nicht entgegenstehen sollen (vgl. Entscheidung T 301/87 "Alpha-Interferone/BIOGEN", ABl. EPA 1990, 335, Nr. 7.5 der Entscheidungsgründe).
4. Nach Artikel 4 H PVÜ kann die Priorität nicht deshalb verweigert werden, weil bestimmte Merkmale [Englisch: elements; Französisch: éléments] der Erfindung, für welche die Priorität beansprucht wird, nicht in den Patentansprüchen der Anmeldung enthalten sind, deren Priorität in Anspruch genommen wird, sofern nur die Gesamtheit der Anmeldung diese Merkmale deutlich offenbart. Daraus folgt, daß die Priorität für einen Anspruch, d. h. ein "Merkmal der Erfindung" im Sinne des Artikels 4 H PVÜ, anzuerkennen ist, wenn der Gegenstand des Anspruchs - implizit oder explizit - in den die Offenbarung betreffenden Anmeldungsunterlagen deutlich offenbart ist, insbesondere in Form eines Patentanspruchs, einer in der Beschreibung der Prioritätsanmeldung genannten Ausführungsart oder eines dort aufgeführten Beispiels, und daß in Ermangelung einer solchen Offenbarung die Priorität für den Anspruch verweigert werden kann.
Artikel 4 F PVÜ bestimmt im ersten Absatz u. a., daß eine Priorität nicht deswegen verweigert werden darf, weil eine Anmeldung, für die eine oder mehrere Prioritäten beansprucht werden, ein oder mehrere Merkmale [Englisch: elements; Französisch: éléments] enthält, die in der oder den Anmeldungen, deren Priorität beansprucht worden ist, nicht enthalten waren, sofern Erfindungseinheit im Sinne des Landesgesetzes vorliegt. Aus dem zweiten Absatz dieser Bestimmung ergibt sich, daß hinsichtlich dieser Merkmale die jüngere Anmeldung ein Prioritätsrecht unter den allgemeinen Bedingungen entstehen läßt. Die Merkmale wären dann in der Anmeldung enthalten, deren Priorität für eine weitere Anmeldung beansprucht wird. Da nach Artikel 4 H PVÜ eine Erfindung, für die eine Priorität beansprucht wird, nicht in einem Patentanspruch der Anmeldung definiert sein muß, deren Priorität beansprucht wird (s. o.), stellt ein "Merkmal" im Sinne des Artikels 4 F PVÜ einen Gegenstand dar, der implizit oder explizit in den die Offenbarung betreffenden Anmeldungsunterlagen deutlich offenbart ist, insbesondere in Form eines Patentanspruchs oder in Form einer Ausführungsart oder eines Beispiels in der Beschreibung der Anmeldung, die eine oder mehrere Prioritäten beansprucht. Dies entspricht dem Zweck des Artikels 4 F PVÜ. Die Möglichkeit der Inanspruchnahme mehrerer Prioritäten wurde in die PVÜ eingeführt, damit für Verbesserungen der ursprünglichen Erfindung nicht Zusatzpatente angemeldet werden mußten. Hieran wird deutlich, daß "Merkmal" nicht im Sinne eines Anspruchsmerkmals, sondern einer Ausführungsart verstanden wurde (Actes de la Conférence de Washington de 1911, Bern 1911, S. 45 f.).
Da nach Artikel 4 H PVÜ die Priorität für einen Anspruch verweigert werden kann, wenn sein Gegenstand nicht in der Anmeldung offenbart ist, deren Priorität beansprucht wird (s. o.), muß zudem die im ersten Absatz des Artikels 4 F PVÜ geforderte Erfindungseinheit zwischen zwei oder mehr Erfindungen bestehen, die in der eine oder mehrere Prioritäten in Anspruch nehmenden Anmeldung offenbart sind, und nicht - wie in einigen Stellungnahmen Dritter gemäß Artikel 11b der Verfahrensordnung der Großen Beschwerdekammer geltend gemacht (vgl. vorstehend Nr. IV) - zwischen einer Erfindung, die in der eine oder mehrere Prioritäten in Anspruch nehmenden Anmeldung offenbart ist, und einer Erfindung, die in einer beanspruchten Prioritätsanmeldung offenbart ist.
5. So steht denn eine enge Auslegung des Begriffs "derselben Erfindung" in Artikel 87 (1) EPÜ, die ihn mit dem Begriff "desselben Gegenstands" in Artikel 87 (4) EPÜ gleichsetzt (vgl. vorstehend Nr. 2), voll und ganz mit den Artikeln 4 F und 4 H PVÜ in Einklang, die materiellrechtliche Bestimmungen darstellen. Außerdem verstößt das Erfordernis "desselben Gegenstands" nicht gegen Artikel 4 A (1) PVÜ, auch wenn dort der Gegenstand der späteren Anmeldung nicht erwähnt wird. Es wird jedoch allgemein davon ausgegangen, daß sich die spätere Anmeldung auf denselben Gegenstand beziehen muß wie die erste, prioritätsbegründende Anmeldung (vgl. Wieczorek, Die Unionspriorität im Patentrecht, Köln, Berlin, Bonn, München, 1975, S. 149). Dies ergibt sich schon aus dem Sinn und Zweck des Prioritätsrechts: Schutz vor neuheitsschädlichen Offenbarungen in einem Zeitraum von 12 Monaten ab dem Anmeldetag der Erstanmeldung ist nur erforderlich, wenn später eine Nachanmeldung eingereicht wird, die sich auf dieselbe Erfindung bezieht. Eine enge Auslegung ist schließlich auch mit Artikel 4 C (4) PVÜ vereinbar, dem zufolge als erste Anmeldung auch eine jüngere Anmeldung angesehen wird, die denselben Gegenstand betrifft wie eine erste ältere Anmeldung, sofern diese erste ältere Anmeldung zum Zeitpunkt der Hinterlegung der jüngeren Anmeldung bestimmte Voraussetzungen erfüllt; es gibt keinen Grund, warum der Begriff "derselben Erfindung" in dieser Fallkonstellation anders ausgelegt werden sollte.
6. In Artikel 88 (2) bis (4) EPÜ geht es um materiellrechtliche Aspekte der Inanspruchnahme einer Priorität. Diese Feststellung steht nicht im Widerspruch zu den Ausführungen unter Nummer 6 der Stellungnahme G 3/93 (vgl. vorstehend Nr. II vi)), die dahingehend verstanden werden können, daß Artikel 88 EPÜ sich zwar hauptsächlich mit den verfahrensrechtlichen und formalen Gesichtspunkten der Prioritätsbeanspruchung befaßt, aber auch materiellrechtliche Aspekte der Prioritätsbeanspruchung behandelt, für die die in Artikel 87 (1) EPÜ festgelegten Grundsätze gelten.
6.1 Artikel 88 (2) Satz 1 und (3) EPÜ entspricht im wesentlichen Artikel 4 F PVÜ, und Artikel 88 (4) EPÜ entspricht fast wörtlich Artikel 4 H PVÜ.
6.2 Nach Artikel 88 (4) EPÜ kann die Priorität auch dann gewährt werden, wenn bestimmte Merkmale [Englisch: elements; Französisch: éléments] der Erfindung, für die die Priorität in Anspruch genommen wird, nicht in den in der früheren Anmeldung aufgestellten Patentansprüchen enthalten sind, sofern die Gesamtheit der Anmeldungsunterlagen der früheren Anmeldung diese Merkmale deutlich offenbart. Nach Artikel 88 (3) EPÜ umfaßt das Prioritätsrecht, wenn eine oder mehrere Prioritäten für die europäische Patentanmeldung in Anspruch genommen werden, nur die Merkmale der europäischen Patentanmeldung, die in der Anmeldung oder den Anmeldungen enthalten sind, deren Priorität in Anspruch genommen worden ist. Da nach Artikel 84 EPÜ die Ansprüche der europäischen Patentanmeldung den Gegenstand angeben, für den Schutz begehrt wird, und damit auch den Gegenstand bestimmen, für den eine Priorität beansprucht werden kann, sind die Begriffe "Merkmale der Erfindung" in Artikel 88 (4) EPÜ und "Merkmale der europäischen Patentanmeldung" in Artikel 88 (3) EPÜ als synonym zu betrachten. Sowohl ein "Merkmal der Erfindung" als auch ein "Merkmal der europäischen Patentanmeldung" bilden letztlich den Gegenstand, der in einem Anspruch einer europäischen Patentanmeldung angegeben wird.
6.3 Artikel 88 (2) Satz 2 EPÜ besagt, daß "für einen Anspruch mehrere Prioritäten in Anspruch genommen werden [können]". Um zu verstehen, welche gesetzgeberische Absicht dieser Bestimmung zugrunde lag, muß man die Materialien zum EPÜ konsultieren, insbesondere die Dokumente M/19, M/22, M/23, M 48/I und M/PR/I.
6.4 Diese Bestimmung geht auf die Vorschläge dreier Nichtregierungsorganisationen zurück: der UNICE (vgl. M/19, Nr. 8), des CIFE (vgl. M/22, Nr. 4) und des FEMIPI (vgl. M/23, Nr. 23). Die Vorschläge wurden anschließend in einem Memorandum der FICPI, einer weiteren Nichtregierungsorganisation, analysiert (vgl. M 48/I, Memorandum C). Auf der Grundlage dieses Memorandums wurde die Bestimmung, daß für einen Anspruch mehrere Prioritäten beansprucht werden können (Art. 88 (2) Satz 2 EPÜ), schließlich angenommen, nachdem die Delegation der Bundesrepublik Deutschland ihre Bedenken gegen die Änderung zurückgestellt hatte (vgl. M/PR/I, Nr. 317). Man kann also davon ausgehen, daß das Memorandum die Artikel 88 (2) Satz 2 EPÜ zugrunde liegende Absicht des Gesetzgebers zum Ausdruck bringt.
6.5 Dem Memorandum zufolge muß bei der Beurteilung der Frage, ob die Inanspruchnahme mehrerer Prioritäten für ein und denselben Anspruch einer Anmeldung berechtigt ist, zwischen folgenden Fällen unterschieden werden:
i) "UND"-Anspruch
ii) "ODER"-Anspruch
6.6 Was den "UND"-Anspruch betrifft (vgl. vorstehend Nr. 6.5 i)), so heißt es in dem Memorandum, daß "beim Vorliegen eines ersten Prioritätsbeleges mit der Offenbarung eines Anspruchsmerkmals A und eines zweiten Prioritätsbelegs, der das Anspruchsmerkmal B in Anwendung zusammen mit A offenbart, einem auf A und B gerichteten Anspruch eine Teilpriorität aus dem ersten Prioritätsdatum nicht zukommen kann, weil die Erfindung A+B nur zum Zeitpunkt des zweites Prioritätsbeleges geoffenbart wurde." Daraus ergibt sich eindeutig, daß für einen "UND"-Anspruch nach dem Willen des Gesetzgebers nicht mehrere Prioritäten beansprucht werden können. Die Anwendung der sogenannten "Schirm"-Theorie (der zufolge dem Merkmal A in dem auf A+B gerichteten Anspruch eine Teilpriorität aus dem ersten Prioritätstag zustünde, so daß das Merkmal A unter keinen Umständen Stand der Technik für die beanspruchte Erfindung A+B werden könnte) kommt somit nicht in Betracht. Abgesehen davon wäre die Anwendung der "Schirm"-Theorie ganz offenkundig nicht mit Artikel 88 (4) EPÜ in Einklang zu bringen.
6.7 In bezug auf den "ODER"-Anspruch (vgl. vorstehend Nr. 6.5 ii)) ist dem Memorandum folgendes zu entnehmen: Wenn ein erster Prioritätsbeleg ein Anspruchsmerkmal A offenbart und ein zweiter Prioritätsbeleg ein Anspruchsmerkmal B als eine Alternative zu A, so kann ein Anspruch, der auf A oder B gerichtet ist, die erste Priorität für den Teil A des Anspruchs und die zweite Priorität für den Teil B des Anspruchs beanspruchen. Ferner wird ausgeführt, daß beide Prioritäten auch für einen auf C gerichteten Anspruch beansprucht werden können, wenn das Anspruchsmerkmal C in Form eines generischen Begriffs bzw. einer Formel oder anderweitig sowohl A als auch B umfaßt. Die Verwendung eines generischen Begriffs oder einer Formel in einem Anspruch, für den gemäß Artikel 88 (2) Satz 2 EPÜ mehrere Prioritäten beansprucht werden, ist nach den Artikeln 87 (1) und 88 (3) EPÜ durchaus akzeptabel, sofern dadurch eine beschränkte Zahl eindeutig definierter alternativer Gegenstände beansprucht wird.
6.8 Somit scheint eine enge Auslegung des Begriffs "derselben Erfindung" in Artikel 87 (1) EPÜ, die ihn mit dem Begriff "desselben Gegenstands" in Artikel 87 (4) EPÜ gleichsetzt (vgl. vorstehend Nr. 2), vollkommen mit Artikel 88 (2) bis (4) EPÜ in Einklang zu stehen. Eine solche enge Auslegung steht auch in Einklang mit Artikel 87 (4) EPÜ, der Artikel 4 C (4) PVÜ entspricht und besagt, daß als die erste Anmeldung, von deren Einreichung an die Prioritätsfrist läuft, auch eine jüngere Anmeldung angesehen wird, die denselben Gegenstand betrifft wie eine erste ältere Anmeldung, sofern diese erste ältere Anmeldung zum Zeitpunkt der Einreichung der jüngeren Anmeldung bestimmte Voraussetzungen erfüllt; es gibt keinen Grund, warum der Begriff "derselben Erfindung" in dieser Fallkonstellation anders ausgelegt werden sollte (vgl. vorstehend Nr. 5).
7. Was die EPÜ-Vertragsstaaten betrifft, so ist der Begriff "derselben Erfindung" in den Patentgesetzen einiger Vertragsstaaten als materiellrechtliches Erfordernis für die Inanspruchnahme einer Priorität ausdrücklich genannt, aus den Patentgesetzen einiger anderer läßt er sich implizit herleiten. Dieser Begriff erfährt in den Vertragsstaaten zum Teil eine enge (vgl. vorstehend Nr. 2), zum Teil aber auch weite Auslegung, die mehr oder weniger den Ausführungen in der Entscheidung T 73/88 entspricht (vgl. vorstehend Nr. II iv)). Es können also weder aus den materiellrechtlichen Erfordernissen für die Inanspruchnahme einer Priorität, wie sie in den verschiedenen Patentgesetzen der Vertragsstaaten verankert sind, noch aus deren Auslegung durch die zuständigen nationalen Stellen eindeutige Schlüsse in bezug auf die vorliegende Frage gezogen werden, in welchem Umfang der Gegenstand einer Erfindung in der Prioritätsunterlage offenbart sein muß, um ein Prioritätsrecht zu begründen.
8. Bei der Festlegung der Kriterien, anhand deren zu beurteilen ist, ob sich ein Anspruch in einer späteren europäischen Patentanmeldung gemäß Artikel 87 (1) EPÜ auf dieselbe Erfindung bezieht wie die Prioritätsanmeldung, sind insbesondere die nachstehenden Aspekte des Problems zu berücksichtigen.
8.1 Nach Artikel 89 EPÜ hat das Prioritätsrecht die Wirkung, daß der Prioritätstag als Tag der europäischen Patentanmeldung für die Anwendung des Artikels 54 (2) und (3) EPÜ gilt. Soll festgestellt werden, welche von zwei möglicherweise kollidierenden europäischen Patentanmeldungen (oder europäischen Patenten), für die Prioritäten beansprucht werden, den früheren Stichtag für die Zwecke des Artikels 54 (3) EPÜ aufweist, so müssen die Kriterien für die Beurteilung des Begriffs "derselben Erfindung" nach Artikel 87 (1) EPÜ - entsprechend dem Prinzip der Gleichbehandlung von Anmelder und Dritten - bei beiden Anmeldungen genau dieselben sein. In diesem Zusammenhang sind die folgenden Beispiele zu betrachten, die in der Vorlage des Präsidenten des EPA enthalten sind und zwei mögliche Fallkonstellationen veranschaulichen:
1.10.1998 1.12.1998 30.9.1999
30.11.1999
GB1 GB2 EP1, Prio. GB1 EP2,
Prio. GB2
Anmelder X Anmelder Y Anmelder X Anmelder
Y
Bsp. 1 A+B A+B' A+B' A+B'
Bsp. 2 A+B A+B+C A+B+C A+B+C
Wird der europäischen Patentanmeldung EP1 die Priorität der britischen Patentanmeldung GB1 zuerkannt, weil B' eine unwesentliche Abwandlung von B ist (Bsp. 1) oder weil mit C zur Kombination A+B ein unwesentliches Merkmal hinzukam (Bsp. 2), so erhält EP1 den früheren Stichtag und gilt gegenüber der europäischen Patentanmeldung EP2 nach Artikel 54 (3) EPÜ als Stand der Technik. Daraus ergibt sich eindeutig, daß eine weite Auslegung des Begriffs "derselben Erfindung", etwa wie in T 73/88 beschrieben (vgl. vorstehend Nr. II iv)), Nachteile für den Anmelder einer europäischen Patentanmeldung haben kann, der wie der obige Anmelder Y die Priorität einer ersten Anmeldung im Sinne des Artikels 87 (1) EPÜ in Anspruch nimmt und den beanspruchten Gegenstand tatsächlich als erster offenbart hat. Ähnliche Probleme entstehen, wenn es um die Neuheit nach Artikel 54 (2) EPÜ geht.
Darüber hinaus schreibt Artikel 54 (3) EPÜ in Verbindung mit Artikel 89 EPÜ vor, daß auch der Inhalt einer europäischen Patentanmeldung EP1 in der ursprünglich eingereichten Fassung, deren Anmeldetag vor dem Prioritätstag einer europäischen Patentanmeldung EP2 liegt und die erst an oder nach dem Prioritätstag von EP2 nach Artikel 93 EPÜ veröffentlicht worden ist, als für EP2 maßgeblicher Stand der Technik gilt. Aus Artikel 56 Satz 2 EPÜ ergibt sich, daß der Inhalt von EP1 in der ursprünglich eingereichten Fassung nur in Betracht zu ziehen ist, wenn es um die Neuheit des Gegenstands von EP2 geht. Dies entspricht voll und ganz dem eigentlichen Sinn und Zweck des Artikels 54 (3) EPÜ, dem das Prinzip zugrunde liegt, daß im Falle zweier europäischer Patentanmeldungen, die auf denselben Gegenstand gerichtet sind, das Recht auf das Patent derjenigen Anmeldung zustehen soll, die den Gegenstand tatsächlich zuerst offenbart hat. Wie die obigen Beispiele 1 und 2 jedoch zeigen, könnte eine weite Auslegung des Begriffs "derselben Erfindung" (s. o.) diesem Grundsatz zuwiderlaufen.
8.2 Die Probleme einer weiten Auslegung des Begriffs "derselben Erfindung" (vgl. vorstehend Nr. 8.1) lassen sich auch folgendermaßen aufzeigen: Ein Anmelder reicht eine auf A+B gerichtete nationale Anmeldung sowie zwei Monate später eine auf A+B+C gerichtete nationale Anmeldung ein. Elf Monate nach dem Anmeldetag der auf A+B+C gerichteten nationalen Anmeldung reicht er dann eine auf A+B+C gerichtete europäische Patentanmeldung ein und nimmt die Priorität der nationalen Anmeldung in Anspruch. Würde dann beispielsweise das Merkmal "C" als unwesentlich betrachtet, so könnte die Priorität der auf A+B+C gerichteten nationalen Anmeldung bei weiter Auslegung des Begriffs "derselben Erfindung" nicht anerkannt werden (vgl. vorstehend Nr. 8.1), denn in diesem Fall wäre die auf A+B+C gerichtete nationale Anmeldung keine erste Anmeldung im Sinne des Artikels 87 EPÜ.
Damit hier keine Widersprüchlichkeit entsteht, müssen dieselben Kriterien angelegt werden, wenn es zu beurteilen gilt, ob i) eine Anmeldung als erste Anmeldung für die Zwecke der Feststellung der Priorität anzusehen ist und ob ii) ein Anspruch in einer späteren europäischen Patentanmeldung nach Artikel 87 (1) EPÜ auf dieselbe Erfindung gerichtet ist wie die Prioritätsanmeldung. Wenn man also die Priorität einer auf A+B gerichteten nationalen Anmeldung für eine auf A+B' oder A+B+C gerichtete europäische Patentanmeldung anerkennt und sich dabei auf eine weite Auslegung des Begriffs "derselben Erfindung" stützt (vgl. vorstehend Nr. 8.1), kann man die europäische Patentanmeldung nicht zugleich als erste Anmeldung für die Zwecke der Feststellung der Priorität ansehen, indem man diesen Begriff eng auslegt und ihn mit dem Begriff "desselben Gegenstands" in Artikel 87 (4) EPÜ gleichsetzt (vgl. vorstehend Nr. 2). Aus dieser Bestimmung ergibt sich eindeutig, daß die Kriterien zur Beurteilung der Frage, ob eine Anmeldung als erste Anmeldung anzusehen ist, eher streng sein sollten, wenn es um die Auslegung des Begriffs "derselben Erfindung" geht. Aus den oben dargelegten Gründen müssen dann bei der Beurteilung der Frage, ob ein Anspruch in einer späteren europäischen Patentanmeldung auf dieselbe Erfindung gerichtet ist wie in der Prioritätsanmeldung (Art. 87 (1) EPÜ), dieselben Kriterien angelegt werden.
8.3 Um zu beurteilen, ob ein Anspruch in einer späteren europäischen Patentanmeldung gemäß Artikel 87 (1) EPÜ auf dieselbe Erfindung gerichtet ist wie die Prioritätsanmeldung, machen die Entscheidung T 73/88 (vgl. vorstehend Nr. II iv)) und eine Stellungnahme, die von Dritten gemäß Artikel 11b der Verfahrensordnung der Großen Beschwerdekammer eingereicht wurde (vgl. vorstehend Nr. IV), einen Unterschied zwischen technischen Merkmalen, die mit der Funktion und der Wirkung der Erfindung in Zusammenhang stehen, und technischen Merkmalen, bei denen dies nicht der Fall ist. Dieser Ansatz ist problematisch, weil es keine geeigneten und eindeutigen objektiven Kriterien für eine solche Unterscheidung gibt und daher Willkür entstehen könnte. Anspruchsmerkmale, die eine Erfindung in Form von A+B+C definieren, stellen ja keine bloße Aneinanderreihung dar, sondern stehen in der Regel in einem inneren Zusammenhang. Wenn nun eine solche Unterscheidung vorgenommen werden soll, hängt die Antwort auf die Frage, ob die beanspruchte Erfindung dieselbe bleibt, wenn man eines dieser Merkmale ändert oder streicht oder ein weiteres Merkmal D hinzufügt, stark davon ab, wie das jeweils entscheidende Organ die Sachlage des Einzelfalls beurteilt. Unterschiedliche Organe können bei der Bewertung der Sachlage durchaus zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen. Wie der Präsident des EPA in seiner Vorlage geltend macht (vgl. vorstehend Nr. III v)), gilt es außerdem zu bedenken, daß sich die Einschätzung dieser verschiedenen Organe, ob bestimmte technische Merkmale mit der Funktion und der Wirkung der beanspruchten Erfindung in Zusammenhang stehen oder nicht, im Laufe des Verfahrens vollkommen ändern kann. Dies ist insbesondere der Fall, wenn ein neuer Stand der Technik zu berücksichtigen ist, der womöglich die Wirksamkeit eines bis dato anerkannten Prioritätsrechts gefährdet. Eine solche Abhängigkeit wäre aber mit dem Erfordernis der Rechtssicherheit nicht vereinbar.
8.4 Stellt die in einer späteren europäischen Patentanmeldung beanspruchte Erfindung eine sogenannte Auswahlerfindung - also typischerweise die Auswahl einzelner Individuen aus größeren Gruppen oder einzelner Teilbereiche aus größeren Zahlenbereichen - in bezug auf den Gegenstand dar, der in der ersten Anmeldung, deren Priorität beansprucht wird, offenbart ist, so sind bei der Beurteilung der Frage, ob sich der Anspruch in der europäischen Patentanmeldung im Sinne des Artikels 87 (1) EPÜ auf dieselbe Erfindung wie die Prioritätsanmeldung bezieht, auch die Kriterien sorgfältig zu berücksichtigen, anhand deren das EPA die Neuheit von Auswahlerfindungen gegenüber dem Stand der Technik beurteilt. Würde diesen Kriterien bei der Beurteilung von Prioritätsansprüchen in bezug auf Auswahlerfindungen nicht umfassend Rechnung getragen, könnte der Patentschutz für Auswahlerfindungen, insbesondere auf dem Gebiet der Chemie, gravierend beeinträchtigt werden. Prioritätsansprüche sollten daher nicht anerkannt werden, wenn die fraglichen Auswahlerfindungen nach diesen Kriterien als "neu" anzusehen sind.
9. Aus der Analyse unter Nummer 8 ergibt sich, daß eine weite Auslegung des Begriffs "derselben Erfindung" in Artikel 87 (1) EPÜ, die einen Unterschied zwischen technischen Merkmalen, die mit der Funktion und der Wirkung der Erfindung in Zusammenhang stehen, und technischen Merkmalen, bei denen dies nicht der Fall ist, macht und bewirken kann, daß eine beanspruchte Erfindung auch dann noch als dieselbe angesehen wird, wenn ein Merkmal verändert oder gestrichen oder ein weiteres Merkmal hinzugefügt wird (vgl. vorstehend Nr. 8.3), unzweckmäßig und einer sinnvollen Ausübung von Prioritätsrechten nicht zuträglich ist. Der Analyse zufolge ist vielmehr eine enge Auslegung des Begriffs "derselben Erfindung", die ihn mit dem Begriff "desselben Gegenstands" in Artikel 87 (4) EPÜ gleichsetzt (vgl. vorstehend Nr. 2), notwendig, um eine sinnvolle Ausübung von Prioritätsrechten sicherzustellen, die u. a. in vollem Einklang steht mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung von Anmeldern und Dritten (vgl. vorstehend Nr. 8.1) und der Rechtssicherheit (vgl. vorstehend Nr. 8.3) sowie mit den Grundsätzen für die Beurteilung der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit (vgl. vorstehend Nr. 8.1). Diese Auslegung wird durch die Bestimmungen der PVÜ (vgl. vorstehend Nr. 5) und des EPÜ (vgl. vorstehend Nr. 6.8) untermauert und läßt sich voll und ganz mit der Stellungnahme G 3/93 (vgl. vorstehend Nr. II vi)) in Deckung bringen. Sie bedeutet, daß die Priorität einer früheren Anmeldung für einen Anspruch in einer europäischen Patentanmeldung gemäß Artikel 88 EPÜ nur dann anzuerkennen ist, wenn der Fachmann den Gegenstand des Anspruchs unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens unmittelbar und eindeutig der früheren Anmeldung als Ganzes entnehmen kann.
10. In der Entscheidung G 1/93 "Beschränkendes Merkmal/ADVANCED SEMICONDUCTOR PRODUCTS" (ABl. EPA 1994, 541), in der es um die kollidierenden Erfordernisse von Artikel 123 (2) und (3) EPÜ geht, wird unterschieden zwischen Merkmalen, die einen technischen Beitrag zum Gegenstand der beanspruchten Erfindung leisten, und Merkmalen, die - ohne einen solchen Beitrag zu leisten - lediglich einen Teil des Gegenstands der in der ursprünglichen Anmeldung beanspruchten Erfindung vom Schutz ausschließen. Somit betrifft die Entscheidung G 1/93 einen völlig anderen rechtlichen Sachverhalt.
11. Da die Frage 1a bejaht wird (vgl. vorstehend Nr. 9), brauchen die Fragen 1b, 2 und 3 nicht beantwortet zu werden.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird die der Großen Beschwerdekammer vom Präsidenten des EPA vorgelegte Rechtsfrage wie folgt beantwortet:
Das in Artikel 87 (1) EPÜ für die Inanspruchnahme einer Priorität genannte Erfordernis "derselben Erfindung" bedeutet, daß die Priorität einer früheren Anmeldung für einen Anspruch in einer europäischen Patentanmeldung gemäß Artikel 88 EPÜ nur dann anzuerkennen ist, wenn der Fachmann den Gegenstand des Anspruchs unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens unmittelbar und eindeutig der früheren Anmeldung als Ganzes entnehmen kann.